Es ist der zweite Roman Fatma Aydemirs, er ist kraftvoll, intensiv, wütend und zeichnet ein realitätsnahes Bild türkischer Familien in Deutschland, ihre Suche nach Identität, ihre Entwurzelung. Und er ist eine unbedingte Leseempfehlung!
„Dschinns“ ist ein Roman über migrantische Erfahrungen, über Hoffnungen und Enttäuschungen. Er ist aber hauptsächlich ein Spiegel der deutschen Gesellschaft, die es eben nicht geschafft hat, die türkischstämmige Community zu integrieren. Weil diese es teilweise nicht wollen, nicht können, nicht dürfen. Es ist auch die Arroganz der Deutschen. Die nachfolgenden Generationen der Gastarbeiter, die Deutschland zu viel Wohlstand verhalfen sind grossenteils entwurzelt, fühlen sich weder Deutschland noch der Türkei zugehörig.
Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. (Hanser Verlag)
Der Roman will nicht literarisch sein, kommt eher bodenständig daher, aber genau das ist seine Qualität. Er ist total authentisch, klingt autobiographisch, glaubwürdig. Erzählt wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven von sechs Familienmitgliedern, das sind komplett unterschiedliche Wahrnehmungen und Welten. Und natürlich auch sechs verschiedene Modelle der Integration und sechs verschiedene Biografien der Ohnmacht. Am stärksten gezeichnet und glaubwürdig sind die Frauenfiguren, während die Männer teilweise sehr klischeehaft beschrieben sind. Der Roman spielt überwiegend in den Neunziger Jahren, die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland ist präsent, Anschläge werden thematisiert, die Kurdenfrage steht permanent im Raum bzw. der Umgang damit in dieser kurdischstämmigen Familie. Irgendwie fast schade, hat Aydemir zusätzlich noch sämtliche aktuell diskutierten gesellschaftlichen Themen dazu gepackt, allen voran natürlich Frauenrechte, Genderfragen, Homosexualität in einer muslimischen Familie – das ist ok, aber etwas zu viel des Guten. Dennoch, das ist wichtige Literatur, liest sich wunderbar, mehr davon, bitte!
„Dschinns“ von Fatma Aydemir, 2022, Hanser Verlag, ISBN: 978-3-446-26914-9 (Werbung)
Zuletzt gelesen:
Zora del Buono – Die Marschallin
Hilmar Klute – Die schweigsamen Affen der Dinge
Seraina Kobler – Tiefes, dunkles Blau
Hiromi Ito – Dornauszieher
Nino Haratischwili – Das mangelnde Licht
Leïla Slimani – Der Duft der Blumen bei Nacht
Kathrin Niemela – wenn ich asche bin, lerne ich kanji
Liao Yiwu – Wuhan
Joachim B. Schmidt – Tell
Ich hatte exakt denselben Eindruck. Es wurde am Ende einfach zu viel hineingestopft, aber das Buch hat eine eigene tolle Wucht. Ich hab’s außerordentlich gern gelesen und kann deine Rezension nur ausdrücklich bestätigen. Das „Zuviel“ stört meines Erachtens auch erst im Rückblick, nicht im Schwung und in der Dichte der beschriebenen Ereignisse! Viele Grüße!
LikeGefällt 1 Person
Ja, Du hast Recht, während dem Lesen fand ich das auch nicht störend, erst, als ich mir Gedanken gemacht habe, wie ich das Buch fand. Happy weekend! Bald ist Ferienzeit! Hurra!
LikeLike
Eben fertiggelesen. Was für ein Plot, was für Geschichten! Und ja: viel hineingepackt.
Das Buch habe ich mit Begeisterung gelesen, einzig der Schluss von Emines Kapitel fand ich nicht sehr schlüssig.
Danke für diesen Tipp,
Felix
LikeGefällt 1 Person