Nicolas Mathieu – Connemara.

Wer bereits einen oder mehrere Romane von Nicolas Mathieu – dem Preisträger des Prix Goncourt 2018 – gelesen hat, kann sich freuen, auch sein neues Werk „Connemara“ ist sehr zu empfehlen. Es ist die feinfühlig erzählte Geschichte gegensätzlicher Lebensentwürfe in der Provinz Frankreichs….

Zwei Welten – die unterschiedlicher nicht sein könnten – prallen aufeinander, wenn Hélène und Christophe sich (wieder) begegnen. Mathieus Figuren sind authentisch und glaubwürdig, es sind Menschen die wahrhaftig sind und die vom Autor einfühlsam beschrieben werden. Ihre Handlungen sind absolut nachvollziehbar und häufig erkennt man sich als Leser wieder. Witzig. Und erschreckend.

Hélène ist fast vierzig Jahre alt. Sie hat Karriere gemacht, geheiratet, zwei Töchter bekommen und lebt in einem Architektenhaus in der Nähe von Nancy. Sie hat sich den Traum ihrer Jugend erfüllt: abhauen, das Milieu wechseln, erfolgreich sein. Christophe hingegen hat die kleine Stadt im Osten Frankreichs, in dem er und Hélène aufgewachsen sind, nie verlassen. Er verkauft Hundefutter und führt ein unentschlossenes kleines Leben. Bis er Hélène wiedertrifft. (Hanser Verlag)

Nach „Wie später ihre Kinder“ findet man in „Connemara“ erneut eine hervorragende Beschreibung der französischen Provinz. Und so unpassend diese Liebschaft ist, so glaubwürdig ist sie dennoch. Mathieu beschreibt exakt und bis ins kleinste Detail dieses einfache, bodenständige, ja spiessbürgerliche, aber vermeintlich zufriedene Leben des „Otto Normalverbrauchers“, beschreibt ein Leben zwischen Eishockeyspielen, Bierchen mit Freunden und zerplatzten Träumen. Im Kleinstadtidyll werden sämtliche Fäden vom Bürgermeister gezogen, der das Amt lebenslang innezuhaben scheint. So ist das wohl auch in der Realität im zentralistischen Frankreich, Paris ist ganz weit weg. Es ist aber nicht nur ein Blick in die tiefste Provinz, es ist auch eine ziemlich gute Beschreibung der modernen Arbeitswelt, in der man im Open Space mit den Kolleg:innen viel zu viel arbeitet, anschliessend auf einen Drink in die Bar geht, um über die Kolleg:innen zu lästern und in der man im Alter von 45 Jahren bereits den Zenit überschritten hat – sich karrieremässig bereits auf dem absteigenden Ast befindet. Im Vordergrund dieser jungen dynamischen Welt stehen jugendliche Frische, Effizienz, Zahlen, Ergebnisse. Es ist kein Roman über eine Midlife-Crisis, schon aber über Sinnfragen, Lebenskrisen, Sehnsüchte, Enttäuschungen und immer wieder das grosse Rätsel, ob es das nun war oder ob da noch etwas kommen mag – sowohl im Beruf, als auch privat in Liebesdingen. Es ist ein Blick auf unsere Gesellschaft, auf diejenigen, die es glauben, geschafft zu haben und die anderen, die wohl irgendwann stehen geblieben sind und deren Leben im vermeintlich grauen Alltag dahin dümpelt. Mathieu hält uns den Spiegel vor und wir erkennen uns darin wieder. Das ist die grosse Qualität des Romans. Nach „Wie später ihre Kinder“ und „Rose Royal“ ist auch „Connemara“ interessante und lustvolle Lektüre! Kennt man den namensgebenden Song „Le Lac du Connemara“ von Michel Sardou und die grosse Melancholie dieser Musik, so kann man sich vorstellen, wie sich dieser Roman anfühlt…

„Connemara“ von Nicolas Mathieu, 2022, Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-27377-1 (Werbung)

Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Hanser Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.

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15 Kommentare

    1. arcimboldis_world

      Ja, das stimmt. Ich finde die Beschreibungen dieses Lebens in der Provinz so authentisch, ich komme ursprünglich aus einem ähnlichen Umfeld und habe das alles so sehr wieder erkannt, egal ob Frankreich oder Deutschland, in der Provinz ist es überall gleich. Ein toller Autor. Herzlichst, aus Zürich! A.

      Gefällt 1 Person

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