Mit einer vermeintlichen Ikone des Dokumentarfilms wird abgerechnet. Jahrelange Recherchen von Nina Gladitz belegen in vielerlei Hinsicht, dass es sich bei Leni Riefenstahl um eine Frau handelte, die äusserst manipulativ vorging, um ihre Karriere in der NS-Zeit zu pushen und so bis zu ihrem Tod und noch darüber hinaus eine nicht zu leugnende Glorifizierung aufrecht erhalten konnte…
Nina Gladitz geht es dabei nicht um eine neue Riefenstahl-Biographie, vielmehr wirbt sie um eine Rehabilitierung und Neueinordnung des Schaffens Willy Zielkes, einem Filmemacher, der von Riefenstahl für deren Zwecke missbraucht und dessen Karriere im Grunde durch Riefenstahl lahmgelegt wurde. Noch immer hält sich der Riefenstahl-Mythos einer grossartigen Regisseurin. Mittlerweile sind ihre Machenschaften und Lügen grossenteils belegbar und der Beweis erbracht für ihre lebenslangen intriganten Machtspiele – von der Nazizeit bis zu ihrem Tod 2003. Eine Karriere voller Lügen und Manipulationen, der kreative Output von zweifelhafter Qualität – in vielen Gerichtsprozessen jedoch zeitlebens verteidigt und aufrechterhalten.
Leni Riefenstahl ist zweifelslos eine Legende, deren zwiespältiger Ruhm bis heute anhält. Der irische Filmexperte Liam O`Leary charakterisierte Leni Riefenstahl einmal mit einem Satz, der bald zum Lieblingszitat der Filmliteratur werden sollte: „Sie war ein Genie, aber ein politischer Trottel.“ Ob sie tatsächlich ein Genie war, stellt dieses Buch ebenso in Frage wie die Vorstellung, sie sei ein politischer Trottel gewesen. Ganz im Gegenteil: Riefenstahl gelang es wie kaum einer Zweiten, stets auf der Seite der Sieger und Mächtigen zu stehen. Nina Gladitz dreht den Satz von O`Leary um. Riefenstahl war keine Ausnahmekünstlerin, dafür aber ein politisches Genie, was sich anhand neuer Archivfunde belegen lässt, die einen Abgrund erkennen lassen, der bislang durch ihren Geniestatus verdeckt wurde. In ihrem Buch legt Nina Gladitz neue, belegbare Details über die Arbeitsmethoden und -strategien Leni Riefenstahls zum Schaden von 123 Menschen vor, die Riefenstahls Selbstdarstellung in einem anderen Licht zeigen und eine Neubewertung Leni Riefenstahls und ihres Tuns geradezu erzwingen. (Orell Füssli Verlag)
Natürlich sind viele bereits bekannte Tatsachen in dieser neuen Dokumentation nachzulesen, jedoch auch neu recherchiertes Material, was teilweise ebenfalls in einer vor kurzem bei ARTE ausgestrahlten Dokumentation zu sehen war – Nina Gladitz zählt zu den bekanntesten Dokumentarfilmerinnen Deutschlands. Bekannt wurde sie durch „Zeit des Schweigens und der Dunkelheit (1979), in diesem Dokumentarfilm setzte sie sich kritisch mit Riefenstahls Film „Tiefland“ (dem „Herzensprojekt“ von Hitler und Riefenstahl) auseinander bzw. dem Schicksal der darin eingesetzten Sinti und Roma als Komparsen. Dagegen klagte Riefenstahl, worauf ein vierjähriger Prozess folgte, doch das Oberlandesgericht Karlsruhe wies 1987 Riefenstahls Klage bis auf einen Punkt ab. Auch wenn in Gladitz Recherchen oftmals ihre persönliche Wut und Enttäuschung spürbar sind, so ist „Leni Riefenstahl – Karriere einer Täterin“ ein sehr wichtiges Buch und trägt hoffentlich zur Entglorifizierung von Leni Riefenstahl bei. Ich habe viele Jahre meines Lebens in Nürnberg – der Stadt der NS-Reichsparteitage – verbracht und finde es immer noch sehr bedrückend, die grossflächigen Aufmarschgelände am Dutzenteich zu besuchen, die in den Filmen Riefenstahls verherrlicht werden. Das ist und war Propaganda und hat mit Kunst nichts zu tun.
„Leni Riefenstahl – Karriere einer Täterin“ von Nina Gladitz, 2020, Orell Füssli Verlag, ISBN: 978-3-280-05730-8 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Orell Füssli Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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