Mit seinem neuen Roman „Der Halbbart“ legt Charles Lewinsky einen „historischen Roman“ vor, der zwar Schweizer Geschichte aufgreift, aber nicht den Anspruch auf Authentizität hat oder gar belegbar ist. Basierend auf Ereignissen im 14. Jahrhundert vor der Schlacht bei Morgarten erzählt Lewinsky die Geschichte von Sebi, seinen Brüdern, seinem Leben in einem Dorf in der Talschaft Schwyz…
In der Geschichtsschreibung gesichert ist, dass am Ägerisee am 15. November 1315 zusammengerottete Schwyzer ein Heer unter Leopold I besiegten und in die Flucht schlugen. Dieser Auftakt gilt als erster der Befreiungskriege der Eidgenossen gegen die Habsburger und deren Verbündeten, der Rest ist Mythos, wird aber natürlich neben anderen Schweizer Mythen vor allem von konservativen Kreisen alljährlich begangen und gefeiert. Dies tut der interessanten Lektüre von Lewinskys Roman keinen Abbruch – interessante Figuren, Nebenfiguren, etwas Zeitgeschichte, Humor und Spannung – all das bietet „Der Halbbart“, aber vor allem eine immense Bandbreite an erzählerischem Können. Im Grunde ist es eine Hommage an grosse Erzähler, an Fabulierer und ihre ausgedachten Geschichten. Sie zogen durch die Lande und boten (neben Hinrichtungen und Kriegen…) das Entertainment in jenen Tagen…
Der Sebi ist nicht gemacht für die Feldarbeit oder das Soldatenleben. Viel lieber hört und erfindet er Geschichten. Im Jahr 1313 hat so einer es nicht leicht in einem Dorf in der Talschaft Schwyz, wo die Hacke des Totengräbers täglich zu hören ist und Engel kaum von Teufeln zu unterscheiden sind. Doch vom Halbbart, einem Fremden von weit her, erfährt der Junge, was die Menschen im Guten wie im Bösen auszeichnet – und wie man auch in rauhen Zeiten das Beste aus sich macht. (Diogenes Verlag)
Es braucht ein wenig Zeit zu Beginn, sich der sehr speziellen Sprache anzunähern, dann liest man sich aber sehr gern und flüssig durch die komplett im Perfekt geschriebenen und mit vielen Helvetismen durchsetzten gut 70 Kapitel. Die Figur des Halbbarts ist zwar titelgebend und auch irgendwie Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, Erzähler ist jedoch Eusebius, genannt „Sebi“ von seinem Umfeld auch gern mal als „Ins-Hemd-Scheisser“ oder „Stündelerzwerg“ bezeichnet, sich selbst sieht und nennt er gerne auch ein „Finöggeli“ (berndeutsch für: zartes Persönchen, Zimperliese…..). An seinen Abenteuern, an seinem Leben, an seinen Plänen nimmt man als Leser teil und erfährt gleichzeitig etwas Historisches, wenn auch nicht belegt, aber dennoch äusserst unterhaltsam. Nicht der beste Roman Lewinskys, aber dennoch eine interessante Lektüre, nicht nur für Schweizer.
„Der Halbbart“ von Charles Lewinsky, 2020, Diogenes Verlag, ISBN: 978-3-257-07136-8 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Diogenes Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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Wie findet man so ein Buch? Finde es interessant, aber wäre ohne dich nie darauf gestoßen.
Guten Rutsch und ach was weiß ich… glaube nicht, dass es nur besser werden kann. Also pass auf dich auf. LG Ola
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Liebe Ola – Charles Lewinsky kann man hier in der Schweiz gar nicht übersehen, ist ziemlich präsent. Und ich mochte seine Romane schon immer, falls Du nichts von ihm gelesen hast, empfehle ich Dir „Melnitz“ oder „Gerron“ und! positiv nach vorne blicken! Und! Danke für Deine Wünsche! Herzlichst aus Zürich! Adrian
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