Eine unerwartete Entdeckung ist der Erstlingsroman von Dana von Suffrin. „Otto“, ist eigentlich eher eine Sammlung liebenswerter Kurzgeschichten und Anekdoten aus dem Leben eines starrköpfigen jüdischen Familienpatriarchen, liest sich wohltuend unkompliziert und ist auf den zweiten Blick doch sehr gehaltvoll…
Es ist erstaunlich, was das relative schmale Bändchen thematisch alles beinhaltet, ohne überladen und gewollt zu wirken. Und es schöpft aus einem prallen Vorrat an amüsanten und tieftraurigen Geschichten zugleich. Die Bandbreite an Emotionen des irgendwie tragisch-schrulligen Oberhauptes einer leicht schrägen jüdischen Familie reicht dabei von sorgenvoller Zukunftsangst bis zum kompletten Ignorieren vieler Tatsachen, aber das macht diesen Roman so glaubwürdig und lebensnah. Es ist eine sehr gelungene Collage von Erinnerungen, Wünschen, Träumen und abgeschlossenen Kapiteln dieser Familie, es ist aber auch ein Abschiednehmen vom pflegebedürftigen Vater und der Versuch loszulassen.
Für sein Umfeld war Otto, der pensionierte Ingenieur, schon immer eine Heimsuchung. Aber als er aus dem Krankenhaus zurückkehrt, ist alles noch viel schlimmer. Nach wie vor ist er aufbrausend, manipulativ, distanzlos und von wahnwitzigen Einfällen beseelt – aber jetzt ist er auch noch pflegebedürftig. Seinen erwachsenen Töchtern macht er unmissverständlich klar: Ich verlange, dass ihr für mich da seid. Und zwar immer! Für Timna und Babi beginnt ein Jahr voller unerwarteter Herausforderungen, aber auch der Begegnung mit der eigenen Vergangenheit und Familiengeschichte, die so schräg ist, dass Außenstehende nur den Kopf schütteln können. Klug, liebevoll und mit sehr viel schwarzem Humor erzählt Dana von Suffrin, wie Timna versucht, ihre dysfunktionale Familie zusammenzuhalten, ohne selbst vor die Hunde zu gehen. »Otto« ist Hommage und zugleich eine Abrechnung mit einem Mann, in dessen jüdischer Biografie sämtliche Abgründe des 20. Jahrhunderts aufscheinen. (Verlag Kiepenheuer & Witsch)
Trotz des häufig lockeren Plaudertones ist der Roman alles andere als seicht und oberflächlich. Die Nachwirkungen des Holocaust sind allgegenwärtig und spürbar, ziehen sich auch durch das Leben der jungen Generationen. Es gibt kein Vergessen, aber einen heutigen etwas anderen Umgang mit diesen Themen. Und Dana von Suffrin hat eine lockere wohltuende Sichtweise auf Traditionen, ohne sich darüber lustig zu machen. Es ist ein sehr lebensnahes Buch für lustvolles Lesevergnügen und eines ist sicher – diesen alten grummeligen Grantler Otto bekommt man nicht mehr so schnell aus dem Kopf…
„Otto“ von Dana von Suffrin, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2019, ISBN 978-3-462-05257-2 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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Die Autorin hat auch ein Hörspiel aus dem Buch gemacht, das ich im Bayerischen Rundfunk hörte. Es gibt einen Podcast unter:
https://www.br.de/mediathek/podcast/hoerspiel-pool/otto-schwarzhumoriges-hoerspiel-ueber-einen-juedischen-patriarchen-1/1822700
Dank und Gruß
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Oh, lieben Dank! Herzlichst aus Zürich! A .
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Gruß von Nüri nach Züri …
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