Eigentlich kann man diesen Roman schon zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts zählen: Ray Bradburys „Fahrenheit 451“. Vor 70 Jahren erschienen, nun in einer Neuübersetzung im Diogenes Verlag und aktueller denn je…
In einer Welt, in der man über Videowalls in den eigenen vier Wänden eine Dauerberieselung erhält, haben Bücher nichts mehr verloren. Bereits auf den ersten Seiten erfährt man von Hauptmann Beatty, dem Vorgesetzten von Guy Montag, wie es dazu kam. Alles wurde immer reduzierter, man erstellte Zusammenfassungen von Büchern, „Auszüge von Auszügen, Auszüge von Auszügen von Auszügen“ (Seite 91) – niemand musste mehr etwas lesen – das erinnert schon sehr an heutige Apps wie „Blinkist“ und ist für Literaturliebhaber vollkommen unverständlich. Die Feuerwehrmänner sind nicht mehr zum Löschen von Bränden im Einsatz, ihre Aufgabe besteht darin Bücher aufzustöbern und zu zerstören, zu verbrennen, sie werden zu offiziellen Zensoren, zu Richtern und Vollstreckern. Das lässt unangenehme Erinnerungen an eine dunkle Zeit in Deutschland aufkommen, wo es auch um Machtdemonstration und das Verbot anders denkender Menschen und Meinungen ging. Es gibt keine Intellektuellen mehr – alle sind gleich und haben das gleiche Wissen. Die Bücher stehen dabei wohl für die freie Meinungsäusserung, die nicht mehr gewünscht ist.
Mit seinem unvergleichlichen Roman hat Ray Bradbury eine Horrorvision des Social-Media-Zeitalters heraufbeschworen: Ein Krieg droht, doch die Menschen werden kleingehalten durch Dauerberieslung und Entertainment, Wissen ist geächtet, Spaß ist alles, worauf es ankommt, der Besitz von Büchern steht unter Strafe. Für die Einhaltung dieser Restriktionen ist die Feuerwehr verantwortlich – in einer absurden Umkehr ihres Auftrags verbrennt sie Bücher und ganze Häuser, notfalls auch zusammen mit ihren Bewohnern. Als der Feuerwehrmann Guy Montag erst den Selbstmordversuch seiner Frau Mildred mit ansehen muss und gleich darauf bei einem Einsatz erlebt, wie sich eine alte Frau zusammen mit ihren Büchern verbrennen lässt, wird der Keim des Zweifels in ihm selbst zu einer lodernden Flamme. Er sucht einen alten Englischprofessor auf, den er im Widerstand vermutet, und gemeinsam schmieden sie einen Plan. Doch die Handlanger des Systems sind ihnen längst auf den Fersen, und Guy Montag kann nur noch die Flucht aufs offene Land retten. Dort schließt er sich einer Gruppe Outlaws an, die das Wissen der Menschheit in ihrer Erinnerung bewahren. (Diogenes Verlag)
Bradburys Figuren sind minimalistisch gezeichnet, viel erfährt man nicht über sie, Die Entwicklung des Protagonisten vom Konformisten zum Revoluzzer ist dennoch nachvollziehbar und vom Autor in einer schnörkellosen und eher unemotionalen Schreibe erzählt. Blickt man auf die Entstehungszeit des Romans, so fragt man sich natürlich schon, wie viel Einfluss die Eindrücke der McCarthy-Ära und das dazugehörige Denunziantentum in den USA auf Bradbury hatten. Ebenfalls sehr interessant, wie sehr der Autor mit den permanent plappernden Videowalls und der Dauerberieselung als Entertainment die heutige Social-Media-Zeit vorweg nahm. Liest man dies mit Sicht aus dieser Warte, ist „Fahrenheit 451“ ein sehr interessanter Roman.
„Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury, 2020 (neue Übersetzung des 1951 erschienenen Romans), Diogenes Verlag, ISBN: 978-3-257-07140-5 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar auf Anfrage kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Diogenes Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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