Saint François d‘Assise“ – Grand Théâtre de Genève 14.04.2024

Selten aufgeführt, weil in jeder Hinsicht monströs und mit gut fünfeinhalb Stunden Aufführungsdauer eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten auf der Bühne und im Zuschauerraum: Olivier Messiaens Opus Summum „Saint François d’Assise“. Von sämtlichem katholischen Weihrauch- und Heiligen-Kitsch-Gedöns befreit, findet der französisch-algerische Künstler ADEL ABDESSEMED eine kolossale Bildsprache und erschafft eine grossartige, fast schon berauschende Umsetzung…

Irgendwie fällt mir auf, dass ich in den letzten Jahren in Genf immer nur überlange Stücke gesehen habe, Philipp Glass‘ „Einstein on the Beach“ (2019), Prokofjews „Guerre et Paix“ (2021) – nun also Messiaens „Saint François d’Assise“. Und auch dafür hat sich die Anreise absolut gelohnt. Der Orchestergraben ist hochgefahren, das riesige – mit über 100 Musiker:innen besetzte – ORCHESTRE DE LA SUISSE ROMANDE ist zusammen mit dem durch den CHŒUR LE MOTET DE GENÈVE verstärkten CHŒUR DU GRAND THÉÂTRE DE GENÈVE im hinteren Drittel der Bühne platziert. Das ist die Grundeinrichtung der Spielfläche für dieses Werk und eröffnet akustisch komplett neue Möglichkeiten. Die acht Tableaus „La Croix“, „Les Laudes“, „Le Baiser au Lépreux“, „L’Ange voyageur“, „L’Ange musicien“, „Le Prêche aux oiseaux“, „Les Stigmates“ und „La Mort et la Nouvelle Vie“ bebildert Abdessemed spärlich und nur mit einzelnen grossen, oft sehr symbolträchtigen Elementen, einzig immer wiederkehrend sind 2 grosse Scheiben, die sowohl als Projektionsflächen dienen (in denen überwiegend die sowohl mit Messiaen, als auch mit Franziskus eng verbundene Vogelwelt vorkommt), als auch auf den Ursprung der monotheistischen Weltreligionen verweisen – das Judentum. Auch sonst findet Abdessemed, der nebst Regie, auch für Bühne und Kostüm verantwortlich zeichnet, starke Entsprechungen zu den einzelnen Bildnern, die ursprünglich von Messiaen für jedes Tableau konkret festgelegt wurden. So sehen wir den ersten Auftritt des Engels auf einem Berg aus Schadstoff-Tonnen, das Thema Müll und die Zerstörung der Umwelt ist allgegenwärtig, die Mönche tragen Kutten die grossenteils mit Elektroschrott – von alten CDs und Taschenrechnern bis hin zu Computerplatinen – bestückt sind und erinnern eher an Bettler, an Randständige, an Obdachlose, als an „Aussteiger“ der besseren Gesellschaft. Es gibt fast keine Bezugnahmen auf das Mittelalter. Einzig das sechste Tableau – ein Raum mit musealem Charakter – verweist mit den beiden dort hängenden Bildern auf die Zeit, wir sehen Cimabues bekanntes Fresko von Franz von Assisi und einen Verkündungsengel, der durch die grossartige CLAIRE DE SÉVIGNÉ als L’Ange immer wieder zitiert wird und mit seinen Flügeln leichtfüssig flatternd und engelsgleich durch die einzelnen Bilder tänzelt. Ihr wunderbarer Sopran zieht fortwährend den Fokus auf sich, betört bei jedem ihrer Auftritte. Überhaupt verweigert sich die Regie jeglichem Pathos, jeglicher Deutung, erschafft stattdessen starke Bilder, die jeder Betrachter für sich deuten kann und muss. Das siebte Bild finde ich allerdings sehr plakativ, vor allem das Licht mit seinen aufdringlichen Farbwechseln ist sehr geschmäcklerisch, es fällt für mich komplett aus der sonst wunderbar reduzierten Ästhetik, die diese Produktion beherrscht. Die Kostüme sind unglaublich schön, jedes einzelne ein Kunstobjekt, man sieht sofort, die Mönche gehören nicht zur besseren Gesellschaft, sind Suchende, Sammelnde, Zeiteisende, Wanderer, irgendwie losgelöst, nicht wirklich verortet. Die Zeit vergeht wie im Flug, die permanenten Wiederholungen in dieser betörenden Musik haben etwas meditatives, lässt man sich darauf ein, fühlt man sich eingelullt, stellenweise wie in Trance, erscheinen einem selbst lange Passagen wie die endlose Aufzählung der Vögel als grosse Bereicherung. Aber eben, man muss sich schon darauf einlassen (können). Alles in allem hat diese Produktion erstaunlicherweise etwas Leichtes, Unbeschwertes, Zeitloses. Die Regie lässt der Musik den Vortritt und so steht das Orchester gemeinsam mit dem musikalischen Leiter der Produktion JONATHAN NOTT im Fokus, der Klang ist überwältigend, so filigran, so omnipräsent und bombastisch und doch stellenweise so intim, fast schon kammermusikalisch klingt da diese Riesenbesetzung. Das Wort und die Musik stehen im Mittelpunkt, es ist mehr ein inszeniertes Konzert, als eine orchestrierte Handlung, es ist etwas ganz Eigenes, Spezielles, es ist ein grosses mystisches Happening. Die Partie des Saint François ist eine der anspruchsvollsten Rollen für einen Bariton, ROBIN ADAMS ist grossartig und hat mir schon im Berner „Rheingold“ als Alberich sehr gut gefallen – bis zuletzt kraftvoll, textverständlich, präsent. ALEŠ BRISCEIN als Le Lépreux (der Lepra-Kranke) ist in einen leuchtenden Umhang gekleidet, bis er die Krankheit ablegen kann und (wie später Franziskus) entblösst vor Gott steht. Wunderbar seine Stimme, berührend sein Tenor, sein Ausdruck. Auch alle weiteren Brüder bieten fein-differenzierte Nuancen und wohlklingende Stimmen: KARTAL KARAGEDIK (Frère Léon), JASON BRIDGES (Frère Massée), OMAR MANCINI (Frère Éllie), WILLIAM MEINERT (Frère Bernard), JOÉ BERTILI (Frère Sylvestre) und ANAS SÉGUIN (Frère Ruffin). Und auch wenn Franziskus zuletzt opernhaft unendlich lange stirbt, so ist dies ein vor allem musikalisch beeindruckender Moment, denn auch wenn das von Messiaen gewünschte intensive „blendend und unerträgliche“ Licht den Leichnam nicht ersetzt, so ist doch genau diese Intensität, diese Intention in der Musik zu hören – grossartig ist das! Ein Erlebnis!

Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:

506: La Bohème – Luzerner Theater 03.04.2024

505: Die Csárdásfürstin – Oper Zürich 01.04.2024

504: Amerika – Oper Zürich 09.03.2024

503: Ernani – Theater St. Gallen 03.03.2024

502: Die lustige Witwe – Oper Zürich Premiere 11.02.2024

501: Cosi fan tutte – Oper Zürich 28.01.2024

500: Orphée aux Enfer – Opéra de Lausanne 31.12.2023

Platée – Oper Zürich 26.12.2023

Lili Elbe – Theater St. Gallen 04.12.2023

Götterdämmerung – Oper Zürich 09.11.2023

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