Sebastian Baumgartens ungewöhnlicher „Don Giovanni“ von 2013 an der Oper Zürich erlebte nach pandemie-bedingter Verschiebung seine Wiederaufnahme mit komplett neuer Cast und man muss feststellen, diese Inszenierung ist relativ gut gealtert und wird (was man an Pausengesprächen so aufschnappt) immer noch kontrovers diskutiert…
Nach einer etwas längeren Mozart-Abstinenz (zuletzt die fantastische Zürcher „Cosi fan tutte“ von Serebrennikov 2019, „Idomeneo“ 2018 (Jetske Mjinssen, ebenfalls Zürich) und „Lucio Silla“ (2017, Neuenfels, Basel) herrscht bei mir grosse Vorfreude auf das Wiedersehen mit dieser „Don Giovanni“-Produktion. Den Regie-Ansatz von SEBASTIAN BAUMGARTEN fand ich bereits an der Premiere sehr interessant und naheliegend. Er analysiert jegliche Handlung und ordnet sie entsprechenden Kategorien zu, die sich an den sieben Todsünden samt Ergänzungen orientieren (von Gier, über Völlerei, bis zur Wolllust). Am Videoscreen im Andachtsraum (Bühnenbild: BARBARA EHNES) wird hierüber penibel die Stichliste geführt und auch gleich auf die Tugenden verwiesen: „Hands for work and hearts for virtue“ (Hände für die Arbeit und Herzen für die Tugend). Don Giovanni ist ein vielschichtiger Mensch, der permanent seine Erscheinungsform ändert, in verschiedene Rollen schlüpft, um einer sektenähnlichen Gesellschaft (die an evangelikale Fundamentalisten im Bible Belt erinnern) zu entkommen, sie gleichzeitig aber auch zu provozieren und sich über deren Regeln schamlos hinwegzusetzen. Nützt aber nichts, am Ende fährt er direkt mit dem Fahrstuhl in die Hölle. Dazwischen Verführung und Entjungferung von soft bis hardcore, seine unzähligen Grapscher-Hinterlassenschaften an unzähligen Frauenkörpern sind für jedermann als blutroter Handabdruck zu sehen. Kein Wunder ist beim Einlass bereits filmisch zu sehen, wie sich die religiöse Sekte in rosa Schutzanzügen mit der Herstellung von Transparenten auf ihre Missionstätigkeit vorbereitet („Ich bin zum Gericht auf die Welt gekommen“). Während das Leben der Gläubigen sich in Ritualen, Ordnung, Sauberkeit zeigt, geniesst Don Giovanni sein Leben und ergibt sich den Champagner-Launen. Die Ensemble-Qualität ist (leider) nur sehr guter Stadttheater-Durchschnitt, TUULI TAKALA (Donna Anna), ANITA HARTIG (Donna Elvira) und KONSTANTIN SHUSHAKOV (Don Giovanni) geben bei dieser Wiederaufnahme ihre Rollendebüts – Shushakov hat das Zeug, zu einem grossen Giovanni-Interpreten zu werden, sowohl musikalisch, als auch darstellerisch überzeugt er mit viel ausbaufähigem Material (seine Champagnerarie klingt bravourös), auch TAKALAs Donna Anna lässt aufhorchen, während die sehr scharf tönende Stimme HARTIGs Geschmacksache ist – mein Geschmack ist sie nicht, viel zu blechern, laut, undifferenziert. Auch EVAN HUGHES als Leporello überzeugt nicht wirklich, steigert sich aber im Laufe des Abends zusehends. ERICA PETROCELLI (Zerlina) und ANDREW MOORE (Masetto), beide Mitglieder des internationalen Opernstudios, zeigen durchaus Profil. Der Don Ottavio von SEBASTIAN KOHLHEPP (in operettenhafter Uniform, Kostüme: TABEA BRAUN) überzeugt in seinen beiden Arien. Am stärksten in Erinnerung bleibt – neben Shushakov – sicherlich DAVID LEIGH als Komtur, was für ein schöner, voluminöser und wohlklingender Bass! Die PHILHARMONIA ZÜRICH spielt unter der Leitung von JORDAN DE SOUZA einen seltsam uninspirierten Mozart, der sonst so einprägsame d-moll Akkord geht fast ein wenig unter und so plätschert die Vorstellung stellenweise etwas dahin und zieht sich in die Länge. Sicherlich wird sich im Laufe der Vorstellungsserie noch die ein oder andere Verbesserung einstellen – insgesamt gesehen ist das immer noch eine tolle (leicht kopflastige) Produktion, jedoch mit ein paar musikalischen Schwächen am Abend der Wiederaufnahme.
Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:
Das Rheingold – Bühnen Bern 06.01.2022
„L’Auberge du Cheval blanc“ – Opéra de Lausanne 31.12.2021
„Anna Bolena“ Premiere – Oper Zürich 05.12.2021
„Il Trovatore“ – Oper Zürich 28.10.2021
„Salome“ – Oper Zürich 17.10.2021
„Œdipe“ – Opéra National de Paris 11.10.2021
„Tosca“ – Oper Zürich 03.10.2021
„Guerre et paix“ – Grand Théâtre de Genève 19.09.2021
„L’incoronazione di Poppea“ – Oper Zürich (WA) 14.09.2021
„Salome“ – Oper Zürich Premiere (livestream) 12.09.2021
„La Bohème“ – Teatro Comunale di Bologna 05.08.2021
„La vedova allegra“ – Teatro Lirico Giuseppe Verdi Trieste
12 Kommentare