Guerre et paix – Grand Théâtre de Genève 19.09.2021

Das Grand Théâtre de Genève eröffnete die neue Saison mit einer spektakulären Inszenierung von Prokofievs Oper „Krieg und Frieden“, ein – der literarischen Vorlage entsprechend – grosses Mammutwerk – keine leichte Muse, aber der Besuch lohnt sich unbedingt, nicht nur wegen der wunderbaren Musik…

Das „Guerre et paix“ kein einfaches Werk ist, weiss man, wenn man schon einmal versucht hat, sich durch die 1600 Seiten von Leo Tolstois grossen Roman der Weltliteratur zu kämpfen. „Krieg und Frieden“ ist eine Mischung aus historischem Roman und intensiver Betrachtungen der zaristischen Feudalgesellschaft Russlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts, explizit der napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1812. Hier muss man dann schon tief in seinen Erinnerungen des lange zurückliegenden Geschichtsunterrichts kramen und natürlich ist das eine etwas trockene Sache. Nicht so, wenn sich CALIXTO BIEITO – mit seinem immer wieder grandiosem Team – der Oper Prokofievs annimmt und dies in einer spannenden Rezeption auf die Bühne bringt. Das Einheitsbühnenbild von REBECCA RINGST ist ein grosser Glücksfall, der prachtvolle Rokoko-Salon dient als Treffpunkt der Gesellschaft, ist aber auch gleichzeitig – im wahrsten Sinne des Wortes – goldener Käfig und später Schlachtfeld mit aufgetürmten Möbeln als Barrikaden für die Szenen der Geschehnisse im napoleonischen Krieg. Die feudale Gesellschaft im zaristischen Russland ist gefangen in ihren Regeln und Ritualen, eingemottet unter Plastikfolien, verstaubt, ein Entkommen ist nicht möglich – es gibt nicht einmal eine Tür in diesem Raum. Kein Wunder, klettern Alexei und Natascha die Wände hoch, wollen dieser Enge entkommen, turnen und balancieren auf den Wohlstands-Symbolen des Interieurs. Das sind starke Bilder, die den ersten – zwei Stunden dauernden – Teil prägen. Erzählt und eingeführt werden die unterschiedlichsten Personenkonstellationen adliger und nicht adliger Kreise, bevor nach der Pause der Krieg und die Kämpfe das Geschehen und die Handlung dominieren. Die Gesellschaft kehrt zurück, durch den grossen Spiegel steigen sie herab aus einer besseren Vergangenheit in eine neue Realität, bevor der Kampf beginnt und die Kanonen donnern. Lächerliche Pappsoldaten aus übrig gebliebenen Pizzaschachteln vorangegangener feudaler Gelage werden gebastelt und verteidigen das Reich gegen die Franzosen.

Konventionen werden gesprengt, die Gesellschaft löst sich auf, das sichere Boudoir bietet keine Sicherheit mehr, erst entschwebt der Plafond, dann lösen sich die Seitenwände des engen Raumes. Man sitzt im Saal und staunt über das Bühnengeschehen, gleichzeitig betört durch die überwältigenden Chöre (Einstudierung: ALAN WOODBRIDGE) und einem hervorragenden ORCHESTRE DE LA SUISSE ROMANDE unter der musikalischen Leitung von ALEJO PÉREZ. RUZAN MANTASHYAN als Natasha Rostova beweist – einmal mehr – ihr grosses Talent als Sängerin und Darstellerin, das konnte sie bereits als Fiordiligi in Serebrennikovs grossartiger „Cosi fan tutte“ in Zürich zeigen. Hier erlebt man von ihr eine immense Bandbreite und Farbigkeit in der Stimme, aber auch einen beindruckenden Reifeprozess einer jungen Frau von den Anfängen ihrer schwärmerischen Verliebtheit, bis zur starken und selbstbewussten, jedoch auch vom Leben gezeichneten Erwachsenen, die zuletzt in Jeans sich der buchstäblich engen Korsage entledigt hat. Ebenbürtig in dieser Produktion BJÖRN BÜRGER (Andrei), ALES BRISCEIN (Anatole Kouragine), ELENA MAXIMOVA (Hélène Bezoukhova) und unzählige weitere Kolleg:innen in dieser riesigen Besetzung. Der Schluss irritiert dann etwas, Andrei stirbt den Liebestod und giftig grün, jedoch hoffnungsvoll, steht das russische Volk in weissen Anzügen (es gibt keine Standesunterschiede mehr) in dieser Landschaft aus Schutt und Asche, während auf den Videowalls futuristische (und wie immer wundervolle) Sequenzen von SARAH DERENDINGER laufen – Friede? Ruhe? Love and Peace? Ein Blick in die Zukunft? Wer weiss das schon. Man sitzt und staunt. Immer noch. Und ist immer noch betört von Prokofievs berauschender Musik, die stellenweise doch eher nach Revolution, als nach russischer Regimetreue klingt. Je mehr Werke Prokofjevs ich sehe, desto mehr wächst mir seine Musik ans Herz. Nach mehreren spannenden Inszenierungen von „Der feurige Engel“, „Der Spieler“ und „Die Liebe zu den drei Orangen“ ist „Guerre et paix“ nun zugegebenermassen das bisher sperrigste Werk und es ist nicht einfach, einen Zugang zu finden. Calixto Bieito schafft es dennoch, mit seiner Umsetzung zu begeistern. Nach der fulminanten Wiederaufnahme von Monteverdis „L’incoronozione di Poppea“ in Zürich, war dies bereits die zweite wunderbare Inszenierung Bieitos innerhalb einer Woche. Was will man mehr!

Zuletzt besuchte Vorstellungen:

„L’incoronazione di Poppea“ – Oper Zürich (WA) 14.09.2021

„Salome“ – Oper Zürich Premiere (livestream) 12.09.2021

„La Bohème“ – Teatro Comunale di Bologna 05.08.2021

„La vedova allegra“ – Teatro Lirico Giuseppe Verdi Trieste 25.07.2021

Die Geschichte vom Soldaten“ – Oper Zürich 11.06.2021

„Das schlaue Füchslein“ – Luzerner Theater 30.05.2021

„Intermezzo“ – Theater Basel 21.05.2021

„Les Contes d’Hoffmann“ – Premiere (livestream) Oper Zürich 11.04.2021

„Der Rosenkavalier“ – Bayerische Staatsoper München – Online-Premiere 21.03.2021

16 Kommentare

    1. arcimboldis_world

      Ja, selten im Spielplan, hatte eigentlich überlegt letztes Jahr oder war das schon vorletztes Jahr? – die Pandemie bringt mich etwas durcheinander – in Nürnberg schauen zu gehen, aber nun nicht so weit in Genf und dann noch von Bieito – herrlich, was will man mehr, wirklich geile Musik. Prokofjew finde ich immer besser! Herzlichste Grüsse nach Berlin! A. aus Z.

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      1. Schlatz

        Ja, hier gab es den außer den relativ bekannten „Drei Orangen“, die öfters liefen, „Der Spieler“ (sehr gut, kurz, knackig, relativ frühes Werk) und letztens die heitere Oper „Verlobung im Kloster“ (aus den 1930ern), auch sehr schön, aber tolle Sänger sind von Vorteil 🙂

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      2. arcimboldis_world

        Ich habe mal die „Drei Orangen“ in Berlin gesehen, in der Komischen Oper, war von Homoki, hat mir damals schon super gefallen, Prokofiev ist einfach wirklich tolle Musik…., habe aber das Gefühl, dass es in letzter Zeit etwas öfters auf den Spielplänen zu finden ist…. Herzlichsten Gruss aus Zürich. A.

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