Keine bahnbrechende Neudeutung und wenig Spektakuläres in der grauen Guckkasten-Bühnenbox (GIDEON DAVEY), aber musikalisch lohnt sich ein Besuch der neuen Produktion von Mozarts „Idomeneo“ an der Oper Zürich unbedingt…
Bereits zu Beginn und zum ersten Auftritt von Elettra wird eines klar – sobald GUANQUN YU die Bühne betritt und singt wird es spannend und interessant, der Fokus liegt (für mich) immer auf ihr, eine tolle und sehr präsente Sänger-Darstellerin (das fand ich schon bei ihrer Mimi, ebenfalls in Zürich). Dagegen verblassen die anderen Kollegen fast ein wenig. Die Handlung dieser Oper ist relativ schnell erzählt und eigentlich ein guter Plot für die Opernbühne, aber offensichtlich fällt es der Regisseurin JETSKE MJINSSEN nicht so leicht oder sie traut dem Ganzen nicht wirklich und versucht mehr daraus zu machen als es ist, versucht alles irgendwie psychologisch zu deuten. Der Chor (in grauen leicht verstaubten, vergilbten, irgendwie verrotteten Alltagskleidern von DIEUWEKE VAN REIJ) tritt immer von der gleichen Position auf und wieder ab und erinnert mich an eine Horde blutiger und mit Wunden versehener Zombies, an lebende, durch die Geschichte geisternde Tote, an Wesen aus einer anderen Welt – jedenfalls nicht an lebende Personen, die zur Handlung beitragen. Vorzugsweise werden sie auch für Um- und Abbauten diverser Möbel und Spielrequisiten eingesetzt. Alles spielt in einer von hohen Wänden begrenzten grauen Box, kein Sturm, kein Ungeheuer, keine weitere Festlegung oder Verortung, aber – oho – am Schluss öffnet sich die ganze Bühne: keine Wände mehr, selbst die Bühnenschräge fährt nach hinten und verschwindet auf der dunklen Hinterbühne – aaaah: Symbol für die Befreiung aller inneren und äusseren Zwänge….!!! Etwas plakativ und nicht neu, aber natürlich zum Schluss ein schönes Bild. Der erste Akt plätschert (bis auf Elettras „Estinto e Idomeneo“ inklusive der pantomimischen Darstellung des Gemetzels in ihrer Familie: Agamemnon/Iphigenie/Klytämnestra/Orest) auch musikalisch etwas dahin, selbst der sehr interessierte, dicke, ältere Mann neben mir mit der dunklen Heino-Brille nickt immer wieder ein wenig weg und schnarcht. Aber dann beginnt es mich zu packen und die forsch-vorwärtstreibende Musik mit dem hervorragenden Orchester LA SCINTILLA unter der Leitung von GIOVANNI ANTONINI nimmt mich mit und fesselt mich bis zum Schluss. Da sieht man auch darüber hinweg, dass während des grossartigen Quartetts im 3. Akt (Idomeneo/Idamante/Elettra/Ilia) die Chorzombies die ganzen Tische von der Bühne schleppen müssen… Neben den grossartigen Frauen GUANQUN YU (Elettra), ANNA STÉPHANY in der Hosenrolle des Idamante und HANNA-ELISABETH MÜLLER als Ilia (toll, ihre erste Klagearie ganz zu Beginn alleine auf der Bühne) bleibt für mich vor allem der Tenor AIRAM HERNANDEZ als Arbace in Erinnerung. JOSEPH KAISER war zwar ein darstellerisch toller, intensiver und stämmig präsenter Idomeneo, musikalisch aber noch ausbaufähig, vor allem bei den Koloraturen.
FAZIT: Ein szenisch eher ruhiger und zurückhaltender solider Abend, aber vielleicht ist mir gerade deswegen diese – auf alten Instrumenten – so tolle Musik im Ohr geblieben und hat mich mitgerissen.
Nachdem ich mich nun jahrelang bzw. meinem ganzen „Opernleben“ einem Besuch von „Idomeneo“ verwehrt hatte, muss ich doch zugeben, das dies ein Fehler war. Diese Oper finde ich fast spannender als alle anderen (bisher erlebten) Mozartopern, sie hat etwas dunkles und abgründiges, da kann fast ein „Don Giovanni“ nicht mithalten. Für mich hat sich dieser Besuch also in doppelter Hinsicht gelohnt…
„Idomeneo“ von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
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