Der Berner „Ring des Nibelungen“ geht in die zweite Runde, „Die Walküre“ hatte Premiere und ein Besuch lohnt sich – Regisseurin EWELINA MARCINIAK und musikalischer Leiter/Co-Operndirektor NICHOLAS CARTER bieten dem Publikum fünf Stunden sehens- und hörenswertes Musiktheater…
Nach dem fulminanten „Rheingold“ als Ringauftakt im letzten Jahr war die Erwartungshaltung sehr hoch an „Die Walküre“ von Regisseurin EWELINA MARCINIAK. Was soll man zu diesem Abend sagen? Er ist fordernd, kopflastig, er gibt viele Denkanstösse und interessante Interpretationsansätze und macht Lust auf „Siegfried“, man will wissen, wohin Marciniaks Ring-Reise geht. Am sperrigsten in Ihrer Deutung ist sicherlich der Einsatz der Tänzer:innen, diese verstärken manche der Szenen, stülpen das Innenleben der gedoppelten Protagonisten nach aussen, mal dezent, mal plakativ – man muss aber auch unumwunden zugeben, dass man nicht alles versteht, in manchen Momenten nervt es auch ziemlich, manchmal hätte man sich etwas Ruhe und mehr Fokus auf die Musik gewünscht. Denn musikalisch gibt es viel zu entdecken und zu bestaunen. Der 1. Aufzug in Hundings Hütte ist stark, kraftvoll und hervorragend besetzt: MARCO JENTZSCHs Stimme ist – für meinen Geschmack – gewöhnungsbedürftig als Siegmund, in diese Inszenierung passt er als Typ aber ganz hervorragend, er ist – wie seine Schwester Sieglinde – ein Ausgestossener, ein Outsider. Das Setting lässt sich nicht verorten, fast hat man das Gefühl, sich in der Zukunft zu befinden, nach einer grossen Katastrophe, Sigmund wirkt, als gehöre er den letzten Überlebenden an – umso glücklicher ist er, seiner Schwester wieder zu begegnen. Das Thema Inzest gerät zur Nebensache. Musikalisch liefert Jentzsch alles, was man von Siegmund erwartet, von den kraftvoll strahlenden Wälse-Rufen, bis hin zu den gefühlvollen „Winterstürmen“. Seine Schwester Sieglinde von JULIE ADAMS ist eine Wucht mit herrlich wohltönender und vor allem durchgehend voluminöser Stimme bis zu ihrem wunderschön gesungenen Bogen „O hehrstes Wunder“- Brava! Im Gegensatz zum starken Familienoberhaupt Wotan , den wir im „Rheingold“ gesehen haben, ist der „Walküre“-Wotan von SETH CARICO eine alberne Memme, ein Weichei, der sich hinter Verträgen und Abmachungen versteckt. Wer nicht spurt, wird aber dennoch verbannt. Grossartig bei Stimme ist CLAUDE EICHENBERGERs Fricka, sie ist dominant und es verwundert niemanden, dass Wotan klein beigeben muss, als Oberhaupt der Götterfamilie hat er es mit ihr sicherlich nicht immer leicht. Frickas Schmach wird noch deutlicher, wenn sie von den Tänzer:innen gedoubelt in vielfacher und hochwangerer Ausführung auf der Bühne zu sehen ist – der klare und deutliche Verweis auf Wotans amouröse Abenteuer, die sich rächen sollen. So gibt es viele wunderbare Ideen und Bilder der Regisseurin, vieles bleibt ungelöst und rätselhaft, wie etwa das Konzept der bunten und interessanten Walküren-Kostüme oder die „Walkürenbox“ im 3. Aufzug, das erschliesst sich dem Zuschauer genausowenig, wie die neongelbe Skulptur, die sich in diesen Raum senkt und später aus diesem wieder verschwindet. Andere Dinge hingegen werden von den Tänzer:innen etwas platt und vordergründig dargestellt, das kann man machen, damit auch der letzte im Saal versteht. Mir persönlich ist das too much und nervt. Und Brünnhilde, die Walküre? Hier gibt es YANHUA LIN zu entdecken, beim ersten Anblick (lesend, in Kim de L’Horizons „Blutbuch“ vertieft…) fragt man sich schon, ob dieses Persönchen ein hochdramatischer Sopran sein kann (hier muss man wirklich seine vorgefertigten Meinungen überprüfen!), aber spätestens beim „Hojotoho“ wird man von ihrer Stimmgewalt weggeblasen – das ist sehr beeindruckend! Und zwar bis zum Schluss. Leider müsste an der Diktion noch etwas gearbeitet werden, denn im Vergleich zu allen anderen Kolleg:innen der Produktion war sie stellenweise schwer verständlich. Grossartig der Feuerzauber, der so zauberhaft gar nicht ist, kein loderndes Feuer, keine Licht- und Laserorgien, kein wabernder Bühnennebel, stattdessen ein einsamer, verzweifelter Wotan vor kargem Fels. Brünnhilde verlässt die Bühne, um im Schlussbild kopfüber an den Füssen aufgehängt über dem am Fels gelandeten Objekt (der Ring? ein Ufo? whatever?) zu schweben. Das irritiert etwas, durchbricht gewaltig die gewohnte Sichtweise, gefällt mir sehr gut und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. NICHOLAS CARTERs dirigiert wirklich satten Wagnerklang, stellenweise für das doch eher kleine Haus fast schmerzhaft laut (ist aber wohl auch platzabhängig), jedoch fortwährend sängerfreundlich und mit anhaltender Spannung, einzig im 2. Aufzug hatte ich für ein paar Momente das Gefühl eines leichten Ermüdungs-Durchhängers aus dem Graben (kann aber auch an meiner Ermüdung gelegen haben…) Insgesamt eine wirklich interessante und sehr komplexe Produktion und komplett anders als der derzeit in Zürich entstehende Ring von Andreas Homoki – ein spannender und durchaus lohnender Vergleich.
Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:
Eugen Onegin – Oper Zürich 16.02.2023
Der Rosenkavalier – Luzerner Theater 15.02.2023
La Bohème – Oper Zürich 28.12.2022
Eliogabalo – Oper Zürich 26.12.2022
Tosca – Oper Zürich 20.12.2022
Faust – Oper Zürich 06.11.2022
Barkouf – Oper Zürich 30.10.2022
Il Trovatore – Oper Zürich 06.10.2022
Die Walküre – Oper Zürich Premiere 18.09.2022
Tristan und Isolde – Oper Zürich 29.06.2022
Giovanna d’Arco – St. Galler Festspiele 25.06.2022
Lucia di Lammermoor – Oper Zürich 22.05.2022
Arabella – Oper Zürich 15.05.2022
The Rape of Lucretia – Luzerner Theater 13.05.2022
Ach wunderbar, gleich so zeitnah auf die Kritik einer anderen Inszenierung zu stoßen! Liest sich etwas moderner und progressiver als die im Januar/Februar 2023 in Dresden gegebene (die mir auch ausgesprochen gut gefallen hat). Bei den Kostümen der Walküren scheinen alle sehr kreativ zu werden. 🙂 Wirst du den gesamten Zyklus besuchen?
LikeGefällt 1 Person
Klar, werde ich den ganzen Zyklus besuchen, kommende Woche „Siegfried“ in Zürich, in Bern dann kommende Saison. Und dann noch „Götterdämmerung“, aber ich denke die kompletten Ringe sehe ich dann nicht mehr, ,ist ja doch immer sehr zeitaufwendig. Naja, in Zürich wohl doch….. mein letzter kompletter Zyklus liegt schon ein paar Jahre zurück, war der Castorf-Ring in Bayreuth, der neue Zürcher ist auch ganz gut geworden bis her, bin jetzt sehr auf den Siegfried gespannt, mein Lieblingsabend! Herzlichst aus Zürich. A
LikeGefällt 1 Person
Hört sich sehr gut an. Apropos, „viele Denkanstösse und interessante Interpretationsansätze und macht Lust auf „Siegfried““ – das scheint gerade der Regie-Trend beim Ring zu sein, war in Berlin ganz ähnlich. 🙂
LikeGefällt 1 Person
Danke für diese ausführliche und anschauliche Beschreibung. Es freut mich besonders zu lesen, dass Claude Eichenberger immer noch so gut bei Stimme ist. Ich habe sie vor Jahren in Bern erlebt, sowohl im Konzert als auch auf der Opernbühne.
LikeGefällt 1 Person
Hey aus Zürich – ja, das hattest Du schon mal geschrieben und JA, sie ist wirklich immer noch toll und super bei Stimme. Hat mir als Fricka ausserordentlich gut gefallen! Tolle Besetzung! Herzlichst aus Zürich. A.
LikeLike
Du musst ein wunderbares Gedächtnis haben, diese ganzen Szenen in diesem Schwung und Begeisterung so detailliert danach wiedergeben zu können. Toll!
LikeGefällt 1 Person
Hahahaha, leider nicht. Ich muss einfach relativ zügig nach dem Vorstellungsbesuch meine Eindrücke niederschreiben, sonst habe ich wieder alles vergessen und manchmal mache ich ja so viel und bin in so vielen unterschiedlichen Vorstellungen, da kommt schon mal was durcheinander. Und je stärker eine Vorstellung ist, umso mehr bleibt natürlich langfristig auch haften. An manche Sternstunde aus meinen frühen Opernjahren (80er/90er Jahre) kann ich mich noch gut erinnern, vielleicht neigt man aber auch dazu, Dinge zu verklären und wenn ich diese Sachen heute sehen würde, fände ich es grausam. Manche Produktionen altern ja ganz schlecht, manche hingegen werden zu Klassikern. In diesem Sinne einen herrliche frühlingshaften Mittwoch aus Zürich. A
LikeLike