Serse – Theater Winterthur 11.05.2023

Die alljährliche Produktion des internationalen Opernstudios der Oper Zürich gemeinsam mit dem Musikkollegium Winterthur hatte Premiere: „Serse“ („Xerxes“), eine der letzten, jedoch meistgespieltesten Händel-Opern…

In der knapp 3 Stunden dauernden Aufführung schafft Regisseurin NINA RUSSI es, die auf den ersten Blick komplizierte Handlung zu entwirren und für jeden verständlich zu erzählen – sie zeigt heutige Charaktere in einer heutigen Welt, manchmal etwas plakativ, aber immer sehr authentisch. Die Liebe ist universell und zeitlos. Das funktioniert und nur so erhält das Ganze einigermassen Schwung und Unterhaltungwert, dennoch bleiben einige Längen, auch wenn bei „Serse“ der ariose Charakter dominiert und weniger Rezitative das Stück noch mehr in die Länge ziehen. Es ist lange her, dass ich einen „Serse“ gesehen habe (1996 an der Bayerischen Staatsoper München unter Ivor Bolton, Regie Martin Duncan, Traumbesetzung!). JULIA KATHARINA BERNDT hat für diese Produktion eine multiflexible Raumlandschaft entworfen, hier hat man Einblick in das Zuhause aller Protagonisten, hier trifft man sich in der WG-Küche, im Schlafzimmer im Bad oder in Serses komplett in weiss gestyltem Designer-Wohnzimmer – für „Ombra mai fu“ hat er sich noch extra einen Bonsai liefern lassen. Hier wird sich geschminkt, diskutiert und hier werden sich die Beine rasiert, alles nur, um den Partner zu bekommen, den man gerne möchten und bei dieser Auswahl herrscht ein grosses Durcheinander. Im Videovorspann werden die Charaktere gezeigt und erklärt, so weiss man sofort, wer ist wer und vor allem wer will wen. Bis zum Schluss tragen die sehr schönen Videoarbeiten und Live-Cams von RUTH STOFER zur Gesamtästhetik bei, zeigen tolle Close-ups, schaffen Atmosphäre. Russi erschafft sehr individuelle Persönlichkeiten, grossartig unterstützt vom unglaublich tollen Kostümbild von ANNEMARIE BULLA. Und Russi hat ein Auge für Details, für kleine intime, aber auch herrlich witzige Momente, etwa wenn Vater Ariodate (BENJAMIN MOLONFALEAN mit wunderbar sattem Bass) sich aufrafft und das fein säuberlich gebündelte Altpapier zur Strasse bringt, während er sonst ganztags stoisch im Pyjama vor dem Fernseher sitzt und Historienfilme sieht. Oder wenn der genderfluide Elviro (grossartig: GREGORY FELDMANN) ein Meerjungfrauen-Kostüm trägt und davon singt, dass Wasser sein Verderben ist. YEWON HAN als Romilda, CHELSEA ZURFLÜH als Atalanta und SIMONE MCINTOSH als Arsamane sind dann auch die spannendsten Figuren in diesem ewigen Hin und Her der Gefühle und Wallungen, toll gezeichnet und musikalisch umwerfend, vor allem Yewon Hans Stimme ist eine Wucht und bietet eine Bandbreite von messerscharfen Tönen bis hin zu einer wohltönenden Sanftheit, absolut passend zu ihrem pubertären Charakter, den sie verkörpert. Darstellerisch sind diese 3 Figuren omnipräsent. Kein Wunder, hat der etwas blasse und vergeistigte Serse dagegen keine Chance sich durchzusetzen, auch wenn SIENA LICHT MILLER bereits mit ihrem wohltönenden Larghetto zu Beginn alle Register zieht und sehr begeistert (hat mir – by the way – auch bereits beim digital arts Festival „Disrupted Scenes“ sehr gut gefallen). Umso erstaunlicher das Winterthurer Publikum, dass es doch tatsächlich geschafft hat, während der ganzen Vorstellung kein einziges mal zu applaudieren. Was war da los? (Ich sage es: offensichtlich uraltes Abo-Publikum…) An der Leistung lag es jedenfalls nicht! Auch wenn man natürlich sagen muss, dass sich so manche Händel-Oper etwas hinzieht – „Serse“ hat sehr viele schöne Nummern, ist aber eben auch etwas zu lang. Aus dem Graben hört man zeitweise ungewohnte, jedoch äusserst farbenreiche und vielschichtige Klänge, das MUSIKKOLLEGIUM WINTERTHUR, eine der traditionsreichsten Institutionen Europas, spielt unter der Leitung von MARKELLOS CHRYSSICOS (mit sehr cooler Frisur – wie schön, gibt es mittlerweile endlich auch freeky Dirigenten! Da wacht sogar das Winterthurer-Schnarchnasen-Publikum für einen Moment auf und tuschelt über den fetten roten Streifen am Kopf des Dirigenten…). Für meinen Geschmack hätte etwas mehr Tempo dem Ganzen gut getan, vor allem der erste Akt erschien mir doch sehr getragen und behäbig, auf der Bühne junges blühendes Leben, aus dem Graben dazu etwas hausbackener Händel. Anyway, die Reise nach Winterthur lohnt sich.

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