Der schwedische Filmemacher, Tänzer und Choreograph PONTUS LIDBERG hat den Ballettklassiker „Giselle“ von Adolphe Adam am Theater Basel in einer modernen Fassung auf die Bühne gebracht – das ist erfrischend zeitgemäss, familientauglich, kurzweilig und auch eine wenig vorhersehbar…
Eigentlich der Inbegriff eines „romantischen“ Balletts mit einem „weissen Akt“ der Willis nach der literarischen Vorlage Heinrich Heines ist die Interpretation Lidbergs alles andere als romantisch, es ist die Geschichte einer unerfüllten Liebe, die aufgrund von Klassenunterschieden von der ersten Minute an zum Scheitern verurteilt ist, ja nicht einmal entstehen kann. Und in so krassem Gegensatz zur zuletzt gesehenen klassischen „Giselle“-Produktion von Patrice Bart am Opernhaus Zürich. Nun also eine zeitgemässe Interpretation in Basel: Während die Putzfrau Giselle – eindeutig mit Migrationshintergrund – sich ihrer schwärmerischen Verliebtheit hingibt, ist sie für Albrecht – aus gutem Hause – nur ein flüchtiges Abenteuer und nach einem kurzen Flirt sofort wieder vergessen. Während der erste Akt in der westeuropäischen Realität spielt, ist der zweite Akt in den Gedanken verortet. Es geht um (erotische) Erinnerungen, um Schuldgefühle, vielleicht sogar etwas Bedauern seitens Albrecht, während Giselle letztendlich an gebrochenem Herzen stirbt und mit den Wiedergängerinnen – den Willis – ihren „Ex“ heimsucht. Das ist dann auch ein starkes Bild, wenn diese als Bräute gemeinsam mit der toten Giselle in der Gedankenwelt Albrechts auftauchen, ob es die vielen weiteren Verflossenen sind? Sie sind jedenfalls austauschbar, denn nicht einmal Giselles Mutter kann ihre eigene Tochter in dieser Masse unglücklicher, toter Bräute wiederfinden. Die Uraufführung dieser Produktion fand bereits 2012 im Le Grand Théâtre de Genève statt, wirkt aber immer noch topaktuell und zeitgemäss, auch in seiner sehr reduzierten Ausstattung, die nur aus überdimensionalen Detailfotografien und Projektionen besteht (Bühne und Video ebenfalls von PONTUS LIDBERG, Kostüme von RACHEL QUARMBY SPADACCINI). Die Tanzsprache von Pontus ist eher gefällig, weich, fliessend, versetzt mit Streetdance-Elementen, hat jedoch einige sehr schöne Sequenzen, wie etwa das Pas de deux der beiden Männer im ersten Akt oder – sehr bewegend – der Zusammenbruch Giselles, der körperlich deutlich und erfahrbar für den Zuschauer zu sehen ist. Das ist ein grosser Moment, kurz vor der Pause. Die Produktion bleibt eher als Ensemblestück in Erinnerung, es gibt wenig Momente, in denen sich SERENA LANDRIEL als Giselle und ELIAS BOERSMA als Albrecht solistisch behaupten können. Am Pult des SINFONIEORCHESTER BASEL stand TOM SELIGMAN – es wurde dankenswerterweise ohne grosses „Haudrauf“ gespielt, dafür mit viel Feingefühl und erstaunlich vielen leisen, fast schon sentimentalen und differenzierten Momenten, Oboe und Harfe häufig im Vordergrund – sehr schön!
Zuletzt besuchte Ballett/Tanz-Produktionen:
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Nachtträume/Marcos Morau – Ballett Zürich 09.10.2022
Dornröschen – Ballett Zürich 06.06.2022
Peer Gynt/Edward Clug – Ballett Zürich 26.05.2022
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Monteverdi – Ballett Zürich 04.02.2022
COW/Alexander Ekman – Theater Basel 21.11.2021
Double Murder/Hofesh Shechter Company – Théâtre du Châtelet Paris 13.10.2021
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Marina Otero: FUCK ME – Zürcher Theater Spektakel 28.08.2021
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