Gauthier Dance Company: The Seven Sins – Theater Winterthur 14.04.2023

Eine der bekanntesten deutschen Kompanien ist mit drei Vorstellungen zu Gast im Theater Winterthur: Die Gauthier Dance Company – beheimatet im Theaterhaus Stuttgart – zeigt die grossartige Produktion „The Seven Sins“. ERIC GAUTHIER hat es geschafft, sieben namhafte Choreographen zu verpflichten, die jeweils eine „Todsünde“ beisteuern: SIDI LARBI CHERKAOUI, ASZURE BARTON, MARCOS MORAU, MARCO GOECKE, HOFESH SHECHTER, SASHA WALTZ und SHARON EYAL… – ein spannender und äussert sehenswerter Abend!

Im Jahrbuch „tanz 2022“ wurde Gauthier Dance als „Glanzlicht der Saison 2021/22“ ausgezeichnet, wohlverdient für deren mittlerweile 15 jährige Arbeit mit nationaler und internationaler Ausstrahlung und Tourneetätigkeit. „The Seven Sins“ bildet thematisch eine Einheit, besteht dennoch aus sieben einzelnen Stücken, die choreografisch unterschiedlicher nicht sein könnten. Es beginnt mit der „Habgier“ von Sidi Larbi Cherkoui, einem Tanz um das goldene Kalb, um das Geld, um das grosse und habgierige Finanz-Business. Das neunköpfige Ensemble kleidet sich in Geld und zu guter Letzt verschwinden sogar die Einzelpersonen hinter Strumpfmasken aus Banknoten, sie sind umgeben davon, gehen darin auf, verschmelzen damit. Ein einziges Ritual, eine Opferung, an deren Ende doch alles in Rauch aufgeht – das sind starke Bilder und ein interessanter Auftakt für diesen grossen Reigen schwerer Laster. Der Bühnenraum ist mit transparenten Soffitten ausgehängt, die immer wieder neue Einsichten und Begrenzungen liefern – und das den ganzen Abend über – spannend beleuchtet sind (Bühne: MARIO DASZENIES). Danach folgt „Faulheit“ – das für mich faszinierendste Stück dieser Produktion von Aszure Barton. Das Duett von ANDREW CUMMINGS und MARK SAMPSON zeigt fliessende Bewegungen in fliessenden Kostümen, sie sind träge, sie wollen und können nicht, fallen immer wieder zurück in einen tranceartigen Zustand, klopfen ihren Körper ab zu Beginn und beenden damit auch die äusserst starke Choreographie, an deren Ende noch eine kurze irritierende Sequenz steht, denn zu träge, zu faul, um sich noch einen runterzuholen ist man nicht. Mit „Hochmut“ von Marcos Morau folgt die dritte der sieben Todsünden. Vier Tänzerinnen in eher trachtig-angehauchten, ländlichen blauen Kleidern, die es nur als Gesamtpaket gibt, wirken auf den ersten Blick bieder und brav, fast schon wie Büsserinnen auf dem Weg zur Kirche, entpuppen sich jedoch unterschwellig gefährlich mit ihren Zischlauten und kurz aufblitzendem stolzen Habitus. Wer weiss, was sich im Kern dieser vermeintlich harmlosen Frauen verbirgt. Wie schon in seiner starken und sehr beeindruckenden Arbeit „Nachtträume“ mit dem Ballett Zürich gibt es viel famose Beinarbeit und Synchronität zu sehen. Die Musik von JUAN CRISTÓBAL SAAVEDRA dazu ist grossartig, wuchtig, fulminant. Es folgt ein energiegeladenes Solo von LUCA PANNACCI zur Musik von VELVET UNDERGROUND/JESSE CALLAERT und in der immer wieder fast schon verstörenden Choreografie Marco Goeckes. Er ist wohl einer der aktuell faszierendsten Choreographen mit seinen exzessiven Bewegungen und unablässig agierenden nervösen Händen und Armen. Es ist die „Völlerei“, die wir sehen, ein Sänger, ein Künstler (in seiner Einführung sprach Gauthier von Freddie Mercury…), der sich verausgabt, nicht genug bekommen kann, in einen Rausch zu geraten scheint, acht Minuten energiegeladene, wild gewordene Völlerei. Eher ungewohnt die fast schon leise und zeitlupenhafte Arbeit von Hofesh Shechter, dessen bisherige Arbeiten eher laut und kraftvoll sind, immer mit den von ihm selbst produzierten Sounds. „Wollust“ ist sein Thema und das ganz in weiss gewandete Ensemble wirkt eher beschaulich, sinnlich- das irritiert etwas, verbindet man Wollust doch eher mit aufdringlicheren, sexuell aufgeladenen Bildern. Die grosse und befreiende Lust selbst ist erst am Ende des Stückes zu spüren, wenn kurz vor dem Black ein grosser lustvoller Seufzer zu hören ist, der den Schlusspunkt setzt. „Zorn“ wurde choreografiert von Sasha Waltz, der Grande Dame des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland, leider ist dies eine sehr oberflächliche, plakative Arbeit von ihr, die weit hinter den anderen sehr tiefgründigen Choreografien abfällt. Die Musik von DIEGO NOGUERA BERGER ist stark und zornig, der Anfang des Stückes mit den raschen Lichtwechseln verspricht viel, aber das war es dann auch, der Rest ergeht sich in Plattitüden und schreienden Tänzer:innen, das ist eine sehr enttäuschende Nummer. Zum Glück ist als letzte Todsünde noch der „Neid“ von Sharon Eyal zu sehen. Es sind die kleinen neidvollen Blicke und Gesten der drei Tänzerinnen, für die man genauer hinsehen muss, die aber alles sagen, alles verraten, die fast durchgehend auf halber Spitze tanzen, klassisch anmutend, in oberflächlicher Eintracht. Der Neid ist jedoch da, er zehrt an ihnen, bis sie sich im Nebelgewaber davon machen und den Abend beenden. Was für eine schöne Produktion, was für eine schöne Bandbreite an choreographischer Arbeit, was für ein wandlungsfähiges Ensemble, was für sehens- und erfahrenswerte Todsünden. Bravi!

Zuletzt besuchte Ballett/Tanz-Produktionen:

ANNE TERESA DE KEERSMAEKER: 5AGON – MUSÉE D‘ART MODERNE DE PARIS

PIT (Bobbi Jene Smith/Or Schreiber) – BALLET DE L‘OPÉRA NATIONAL DE PARIS 29.03.2023

On the Move (van Manen/Stiens/Spuck) – Ballett Zürich 29.01.2023

Giselle – Theater Basel 15.01.2023

Il lago dei cigni (Schwanensee) – LAC Lugano 10.12.2022

Nachtträume/Marcos Morau – Ballett Zürich 09.10.2022

Dornröschen – Ballett Zürich 06.06.2022

Peer Gynt/Edward Clug – Ballett Zürich 26.05.2022

Ruß – eine Geschichte von Aschenputtel – Badisches Staatstheater Karlsruhe 30.04.2022

Angels‘ Atlas – Ballett Zürich 08.04.2022

Hofesh Shechter: Uprising/In your Rooms – Ballet de l’opéra national de Paris 27.03.2022

Monteverdi – Ballett Zürich 04.02.2022

COW/Alexander Ekman – Theater Basel 21.11.2021

5 Kommentare

Diesen Beitrag von arcimboldis_world kommentieren

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s