Die Nacht als Ort magischer Momente, gleichwohl aber auch Raum für Albträume – der spanische Choreograph MARCOS MORAU hat für das Ballett Zürich zum Saisonauftakt einen fantastischen Abend kreiert. Nach den wohlverdienten internationalen Auszeichnungen für Christian Spuck, seinen Produktionen, seinem Programm, seinen Tänzer:innen nun wohl ein weiteres Tanz-Highlight mit Auszeichnungspotential für Zürich – „Nachtträume“ muss man gesehen haben…!
Marcos Morau, der sich selbst als interdisziplinärer Mensch versteht und mit seiner Kompanie „La Veronal“ interdisziplinär Produktionen erarbeitet, vereint in „Nachträume“ die unterschiedlichsten Genres, die Produktion weckt vielerlei Assoziationen – man fühlt sich an die grauen Herren der Zeit in Michael Endes „Momo“, an die Aufmärsche in Pink Floyds „The Wall“, erinnert, auf alle Fälle immer- und fortwährend an Macht mit faschistischen Tendenzen, an Gruppierungen, an unterlegene und überlegene Menschen, an Menschen, die für ihre Karriere Kapital daraus schlagen. Grossartig die Bewegung der Massen, bestechend auch die vielen Details in kleinen Gruppen und Paarungen, denen man gar nicht allen folgen kann, so viel gibt es eineinhalb Stunden lang zu sehen. Das komplette Ensemble permanent im Einsatz, was für eine Energie, die man bis in die letzten Reihen spürt. Es stimmt einfach alles, die Idee, das Konzept, die grossartigen Kostüme und Perücken, das Setting mit dem riesigen futuristischen Lüster, der ein wenig an ein Raumschiff erinnert und multipel bespielt wird und dann natürlich der grosse runde Tisch, eine Reminiszenz an das Stück von Kurt Joos „Der grüne Tisch“ von 1932, in dem er den ersten Weltkrieg behandelt – auch heute, 90 Jahre später, aktueller denn je. Der Tisch als Machtzentrum, hier wird geredet, gestritten, verteilt, entschieden. Das Stück und seine grossartigen Musiken von CLARA AGUILAR, Musik-Collagen (von Hollaender bis freejazz), Atmosphären, Zitaten und Livemusiken (wunderbar HEINZ DELLA TORRE an der Trompete/LUIGI LARGO am Klavier) raubt dem Zuschauer fortwährend den Atem, man kommt nicht zur Ruhe, permanent gibt es kraftvollen Tanz und stampfende Rhythmen, einfallsreiche Details und als grossartige Klammer dieser Produktion den unglaublichen RUBEN DROLE als genderfluides Wesen, als Königin, als Herrscherin, als DIE Macht schlechthin. Wuchtig, kraftvoll präsent und doch bezaubernd einfühlsam und sanft wie etwa in Schuberts „Nacht und Träume“ umringt von lieblichen Schafen irgendwo fernab im Universum. Gleichzeitig auch ein wenig schräg, erinnert er mich doch auch an Tim Curry als Frank-N-Furter in Richard O’Briens „Rocky Horror Show“. Der Schluss lässt dann alles offen für die Zukunft, wenn die Herrscherin alleine unter dem Lüster auf vielen Stühlen thront (oder ist es ein Scheiterhaufen?) und das komplette Ensemble an der Rampe steht und Kurt Weills Song „Wie lange noch?“ aus dem Jahr 1944 anstimmt. Diese Frage stellen wir uns derzeit häufig, wie lange wird es wohl noch gehen. „Nachtträume“ ist kraftvoll, bewegend, aufwühlend, zeitlos. Mehrere Vorhänge, Standing Ovations! Bravi!
Zuletzt besuchte Ballett/Tanz-Produktionen:
Dornröschen – Ballett Zürich 06.06.2022
Peer Gynt/Edward Clug – Ballett Zürich 26.05.2022
Ruß – eine Geschichte von Aschenputtel – Badisches Staatstheater Karlsruhe 30.04.2022
Angels‘ Atlas – Ballett Zürich 08.04.2022
Hofesh Shechter: Uprising/In your Rooms – Ballet de l’opéra national de Paris 27.03.2022
Monteverdi – Ballett Zürich 04.02.2022
COW/Alexander Ekman – Theater Basel 21.11.2021
Double Murder/Hofesh Shechter Company – Théâtre du Châtelet Paris 13.10.2021
PLAY/Alexander Ekman/Ballet d’opéra de Paris – Palais Garnier 10.10.2021
Marina Otero: FUCK ME – Zürcher Theater Spektakel 28.08.2021
Ich kann mir keine mitreißendere Rezension über ein Ballett vorstellen. Den Runden Tisch hätte ich gerne gesehen, samt Perücken und Stampfen! Guten Wochenstart!!
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Lieber Alexander – ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe ja schon viel Ballett und Tanz in meinem Leben gesehen, aber das war wirklich eine ganz tolle Produktion. Sehr sehr toll! Ich hatte vorher nichts gehört von Marcos Morau – für mich die Entdeckung. Toll! Wünsche Dir ein schönes Wochenende! Hier regnet es, grau, aber etwas Ruhe ist auch mal ganz schön (vor allem nach der aufregenden Woche in London). Liebe Grüsse aus Zürich! Adrian
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