Einmal mehr hat uns PATRICIA KOPATCHINSKAJA einen grossartigen Konzertabend beschert und den grossenteils immer noch sehr konservativ-piefigen Konzertbetrieb entstaubt – das alleine gehört schon gefeiert. Das inszenierte Konzert mit einem komplett neuen Hörerlebnis von Beethovens Violinkonzert sowieso! Toll!
Der Vorhang ist noch geschlossen, man hört das stetig lauter werdende Ticken eines Metronoms und wie ein Scanner fährt eine Projektion über die Bühne, der Saal dunkelt ein und los geht es mit dem immer wieder wunderbaren Stück „The Unanswered Question“ von Charles Ives. Es folgen collagiert Stücke von Haydn, Bach, Cage (grossartig Kopatchinskaja mit 3 weiteren Musikern und dem extrem rhythmischen und kraftvollen „Once upon a Time“, geflüstert, gesungen, fast schon ausgespuckt – ein Text von Gertrude Stein) und Kurtág, bevor es dann zum aussergewöhnlichen Hörerlebnis des Beethovenschen Violinkonzertes übergeht. Hier spielt Kopatchinskaja nicht nur die Kadenz, sondern duelliert sich förmlich solistisch mit weiteren Musikern, sie dirigiert das LUCERNE FESTIVAL CONTEMPORARY ORCHESTRA und dirigiert es doch nicht, vielmehr geht sie darin auf, in der Bewegung und musikalisch. Am Ende senken sich fast schon apokalyptisch die Licht-Trassen vom Schnürboden, Nebel wabert auf die Bühne, zu hören ist eine gescratchte Soundcollage aus diversen Werken u.a. wohl auch Beethovens 9. Sinfonie und weitere Versatzstücke, die Musiker verlassen zu den sphärischen wunderbaren Klängen von Pauline Oliveros „Horse Songs from Cloud“ in einer Aufführung mittels der Handy-App von Levy Lorenzo. Der Saal und die Bühne dunkeln ein, zu sehen sind nur noch die dahingleitenden leuchtenden Handy-Bildschirme, man ist im digitalen Konzertzeitalter angekommen – es folgt Stille. Ein grosser Konzertmoment!
Charles Ives: The unanswered question – Joseph Haydn: Sinfonie fis-Moll Hob. I:45 Abschiedssinfonie – John Cage: Once upon a Time – Johann Sebastian Bach: Choral „Es ist genug“ aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ BWV 60 – György Kurtág: Ligatura-Message to France-Marie (The Answered Unanswered Question) – Ludwig van Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 81 – Pauline Oliveros: Horse Songs from Cloud
Patricia Kopatchinskaja ist immer wieder für eine Überraschung gut und bietet dem Besucher spezielle Momente, sei es zusammen mit Currentzis in Luzern oder Holliger in der Tonhalle Zürich. Sie sieht sich als Forscherin, als Grenzbrecherin, will keinen Stillstand in der Musik, sondern Neues. Und doch ist „Bye Bye Beethoven“ nichts ungewöhnliches und neu Erfundenes, Premiere feierte das Konzept bereits 2016 in Hamburg und auch in Zürich bewies Iñigo Giner Miranda mit seinem mehrjährigen Projekt #bebeethoven (#bebeethoven2019 und #bebeethoven2020 in der Tonhalle MAAG), dass es auch andere Wege gibt in der Konzertgestaltung. Kopatchinskajas Konzept geht auf. Ein wirklich rundum interessantes Konzerterlebnis und einmal mehr ein Schritt von Patricia Kopatchinskaja, um sich von der oftmals tristen Programmatik in den Konzertsälen zu lösen, eben nicht nur optisch, sondern auch wegen ihrer Distanz zur üblichen und typisch langweiligen Aufteilung eines Konzertes (Intro/Solist/Pause/Sinfonie etc./Zugabe). Auch in der Besetzung ist das Konzept wegweisend, es findet eine Gleichberechtigung unter den Musikern statt, der Solistenstatus ist quasi aufgehoben, die meisten Musiker spielen stehend, das gibt – wie bei den Konzerten von Currentzis und „MusicÆterna“ eine ganz speziellle Dynamik und Energie – wunderbar ist das. Man wünscht sich mehr davon!
Zuletzt besuchte Konzerte:
JAKUB HRŮŠA – MOZART/DVOŘÁK – Lucerne Festival 24.08.2021
Blomstedt – Stenhammar – Tonhalle MAAG 17.06.2021
Ein deutsches Requiem – Oper Zürich/Noseda (livestream) 07.02.2021
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Järvi/Janke – Pärt/Beethoven – Tonhalle MAAG 23.09.2020
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