Wo sind wir hier? – Das ist eine gute Frage gleich zu Beginn im ergänzenden Marthaler-Text-Kosmos. Denn damit startet auch die Live-Übertragung der neuen Produktion von Glucks „Orphée et Euridice“ (in der Berlioz-Fassung) an der Oper Zürich und man begibt sich mit Orpheus in eine ganz spezielle Unterwelt. Einmal mehr ein Livestream ohne Live-Publikum, nachdem am Tag zuvor Christian Spucks grossartiges Ballett „Winterreise“ ebenfalls live über Arte TV zu sehen war und noch für einige Zeit on demand zur Verfügung steht. Also sitzt man zu Hause vor dem Fernseher und dem sonntäglichen Tatort und hofft auf eine Opern-Sternstunde, die man in dieser Zeit so dringend nötig hat. Meine Regie-Messlatte für den Orpheus ist hoch, seit 1991 durch Konwitschnys herrlicher Inszenierung in Nürnberg meine Liebe zu Gluck entfacht wurde (der zuletzt erlebte in Berlin von Jürgen Flimm war eher mässig und hausbacken, einzig durch Dreissig/Cencic wenigstens musikalisch ein Erlebnis)…
Wenn CHRISTOPH MARTHALER inszeniert, weiss man, was einen erwartet und mit was man rechnen darf/kann/muss. Von daher ist dieser neue Gluck-Abend vorhersehbar und keine grosse Überraschung und gleich vorneweg – ziemlich langweilig. Die Frage ob sich Marthaler nicht einfach längst schon selbst überholt hat, hat sich mir bereits bei seiner letzten Produktion von „Das Weinen (Das Wähnen)“ am Züricher Schauspielhaus gestellt, selbst sein eigenes Stammpersonal (wie z. B. LILIANA BENINI, GRAHAM F. VALENTINE oder das Urgestein BERNHARD LANDAU) bringt er mittlerweile mit. Mit seiner Entourage, alles voran die immer wieder grossartige Ausstatterin ANNA VIEBROCK, geht Marthaler kein Risiko ein, wird langsam aber auch etwas gefällig und zitiert und wiederholt sich selbst. Schade, denn es hat ein paar wirklich wunderbare (marthalerische) Ideen, wie etwas die ständig umhergeisternde und dann gesprengte Urne oder die Tatsache, dass das Fernsehprogramm im Hades wohl auch nicht spannender ist als bei den Lebenden. Nichts los da unten. Gähnende Leere bis auf ein paar selige und unselige zuckende Geister, der Chor selbst ist mit dem Orchester pandemiebedingt auf die Probebühne am Kreuzplatz verbannt und wird live dazu gespielt – die neue Hightech-Ausstattung macht das möglich und gleichzeitig auch steril. Permanenter Aktionismus von allen Beteiligten, damit bloss keine Ruhe einkehrt im Totenreich, aber ein wunderbar musizierendes Damentrio: Orphée – NADEZHDA KARYAZINA / Euridice – CHIARA SKERATH / L’Amour – ALICE DUPORT-PERCIER und ein wohlklingendes Orchester unter der Leitung von STEFANO MONTANARI, sofern man das über die doppelte Liveübertragung (Kreuzplatz – Opernhaus – TV) beurteilen kann. Was jedoch bleibt – nach Homokis grossartiger „Iphigénie en Tauride“ der letzten Spielzeit – haften von diesem neuen Gluck-Abend? Pizza für Alle zur Applaus-Ordnung. Hurra – wir leben in Zeiten von geschlossenen Restaurants und Lieferdiensten….
Letzte Opernerlebnisse:
„Il crepuscolo dei sogni (UA)“ – Teatro Massimo Palermo (livestream) 26.01.2021
„Un ballo in maschera“ – Oper Zürich (stream) 17.01.2021
„Simon Boccanegra“ – Premiere (livestream) Oper Zürich 06.12.2020
„Boris Godunow“ – Oper Zürich (stream) November 2020
„7 Deaths of Maria Callas“ – Bayerische Staatsoper München (livestream) 05.09.2020
„Operettengala Camilla Nylund & Piotr Beczala“ – Oper Zürich 12.07.2020
„Iphigénie en Tauride“ – Oper Zürich 16.02.2020
„Wozzeck“ – Oper Zürich 09.02.2020
„Salome“ – Luzerner Theater 17.01.2020
„Martha oder der Markt zu Richmond“ – Oper Frankfurt 31.12.2019
„Belshazzar“ – Oper Zürich 17.11.2019
„Cosi fan tutte“ – Oper Zürich 8.11.2019
„Die Sache Makropulos“ – Oper Zürich 6.10.2019
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