Nachdem am Tag der Lockdown-Verkündigung im März noch die Generalprobe stattfinden konnte, musste die Premiere bis in den Herbst 2020 warten – Christoph Marthalers neues Stück am Schauspielhaus Zürich: „Das Weinen (das Wähnen)“ mit Texten des Schweizer Künstlers Dieter Roth (oder auch gerne mal Diter Rot), der neben seiner Aktions- und Objektkunst, eben auch für konkrete Poesie steht…
Das Projekt schwebte wohl bereits sehr lange in Marthalers Ideen-Kiste, hatte Roth ihm bereits in den 80er Jahren Textmaterial geschenkt mit dem Titel: „Das Weinen. Das Wähnen. Tränenmeer 4“, von dem Marthaler in vielen seiner Arbeiten immer wieder auszugsweise Material verwendete, nun aber zum ersten mal in einer „hochöffentlichen Begegnung der beiden Schweizer Sonderfälle“ (Zitat Schauspielhaus Zürich oder wie es sich aktuell nennt: Zchauspielhaus Sürich). „Das WEINEN (das WÄHNEN) ist sicherlich nicht Marthalers beste Arbeit, aber unterhaltsam ist sie dennoch, hat man sich erst einmal an das absurde, dadaistische von Dieter Roths Texten gewöhnt und sich darauf eingelassen. Zeit genug dafür hat man, denn bereits der Vorhang-Countdown mit der Personenwaage und die danach verstreichende Zeit bis zum ersten Auftritt stellt die Zuschauer, die ein schnell-lebig-hektisches Heute bevorzugen, auf die Probe. Kann ich mich darauf einlassen? Kann ich das Tempo etwas herunterfahren? Muss ich nicht, denn die Rothschen Textergüsse folgen auf den Fuss. Verdrehungen, Auslassungen, Wortspielereien ohne Ende – die Damen des Ensembles rezitieren textbegeistert Herrn Roth (oder Rot) und gehen ihren Tätigkeiten in einer zeitlich nicht wirklich verorteten Apotheke (Bühne: DURI BISCHOFF) nach. Es ergiessen sich zwei absurde Marthaler-Stunden par excellence auf die Zuschauer, von ellenlangen Beipackzetteln, die ausschließlich Nebenwirkungen beinhalten bis hin zum üblichen Running-Gag (der einzige Mann im Ensemble, wenig gemurmelter Text, aber das ganz grossartig: MAGNE HÅVARD BREKKE) oder eigenmächtig agierenden Wasserspendern. Und wie immer ein Rhythmus, der sich durch den ganzen Abend (bzw. Nachmittag) zieht, musikalisch wie eh und je, egal ob das wunderbare „Lacrimosa“ aus Mozarts Requiem, die immer wieder auftauchende Figaro-Arie „Se vuol ballare Signor Contino“ oder eines der Highlights der Produktion: die wunderbare NIKOLA WEISSE mit ihrer Nummer „Crying in the rain“ von A-HA – immer mit herrlich ausklappbarem Videostream der musikalischen Leitung (BENDIX DETHLEFFSEN). Alles passt, alles stimmt, vom strapaziösen Anfang bis zum flotteren Schluss. Grosse Spiellust auch bei der weiteren exzellenten Damen-Riege: LILIANA BENINI, ELISA PLÜSS, SUSANNE-MARIE WRAGE UND OLIVIA GRIGOLLI (mit köstlich-trockener Italianità). Dennoch bleibt man seltsam unberührt von dieser Arbeit. Lag es an den Texten, an der Corona-bedingten Spielpause des Stückes, gehen dem Regisseur die Ideen aus oder ist man einfach etwas Marthaler-Müde?
Zuletzt besuchte Schauspielproduktionen:
Der Mensch erscheint im Holozän – Schauspielhaus Zürich 01.03.2020
Orest in Mossul – Schauspielhaus Zürich 05.10.2019
10 x 10 Abschlussfest Intendanz Barbara Frey – Schauspielhaus Zürich 29.06.201
„Die grosse Gereiztheit“ – Premiere/Schiffbau 15.05.2019
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