Es ist lange her, dass ich einen wirklich guten Abend an einem der Zürcher Sprechtheater (ja, ich nutze genau diesen Begriff!) erlebt habe. Was für grosses Vergnügen nun also, eine Vorstellung der aktuellen Serie (der komplett ausverkauften Vorstellungen) von „EWS – der einzige Politthriller der Schweiz“ am Theater Neumarkt zu sehen…
Lustvoll und mit viel Energie startet dieser Abend über Eveline Widmer-Schlumpf – dem Hassobjekt der SVP – der Bundesrätin, die eine Wiederwahl Christoph Blochers zum Bundesrat verhinderte, um selbst das Amt zu übernehmen, flankiert von breiter Unterstützung aus allen politischen Feldern und grosser und breiter emotionaler Absicherung im Volk. Es ist eine fast schon atemlose, kurzweilige Produktion, sie bietet eine unterhaltsame Mischung aus Entertainment und Polit-Satire, zeigt ein gutes Bild dieser eigentlich biederen konservativen Politikerin, umrankt von Mythos und Realität. Elf Evelines kann man erleben, in unterschiedlichen Facetten, die drei Schauspieler:innen MELINA PYSCHNY, LARA STOLL und DAVID ATTENBERGER übernehmen dabei eben nicht nur Widmer-Schlumpf, sondern auch Blocher und Kumpan:innen. Eine bunte Melange aus leeren Politiker-Worthülsen, Büro-Flur-Gemurmel, Floskel-Collagen am Kopierer und Kaffeemaschine („Wo sind denn die Kapseln?“) und trockene Bundeshaus-Konversationen mit Orangensaft-Apero, dazu Filmausschnitte und eine bunte Fotoauswahl der Politik-/Bundesratprominenz jener Zeit. Acht Jahre Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Schnelldurchlauf sozusagen, köstlich, temporeich und musikalisch. Es sind vor allem die unzähligen detailversessenen Kleinigkeiten, die das Bild von EWS zeichnen und die Qualität dieser Produktion ausmachen, wie etwa die fortwährend choreografierten Treppenauf- und Abgänge der Evelinen oder ein äusserst amüsantes Telefongespräch in Polt/Loriot-Manier. Das ist Humor! Grossartig wie die beiden deutsch-stämmigen Schauspieler:innen Pyschny und Attenberger Schweizer Politiker:innen imitieren, zu diesen werden, Gesten und Mimiken übernehmen, als Stünde plötzlich Blocher himself auf der Bühne, ein weiterer köstlicher Moment: die in guter Country-Manier zur Gitarre gesungene Rede (Lara Stoll), es geht um Konkordanz und Toleranz und weiteren medial gut zu verbratenden Schlagwörtern. Nicht zu vergessen, das herrlich bunt gemischte Chor-Ensemble bestehend aus FREDY GOLDSCHMID, PINA KÖHLER, TANYA KÖNIG, ANNETTE LABUSCH, LUCY NOVOTNY, RUTH RÜFENACHT, JULIA SATTLER UND SALOME SCHOCK (wunderbar und besonders erwähnenswert die A-Capella-Hintergrund-Musik der „Tagesschau“ an der Rampe…) sowie die gelungene Ausstattung von ANNA WOHLGEMUTH (Bühne) und DELIA C. KELLER/TANIA PERRET (Kostüm) – Marthaler und Viebrock lassen grüssen. Und bei all der gezeigten Sympathie in der breiten Basis der Schweizer Volkes für EWS vergisst man dennoch nicht, dass Widmer-Schlumpf eben doch auch eine rechte Politikern ist, die für die knallharte Ausweisung von straffällig gewordenen Ausländern oder politisch Asylsuchenden steht. Zudem wird klar und deutlich, dass Frauen in Bundesbern eben immer noch unterrepräsentiert sind, häufig die Männerelite dominiert, bestimmt, intrigiert, in ihren althergebrachten Rollenklischees denkt. JULIA REICHERT und PIET BAUMGARTNER (Regie, Dramaturgie & Konzept) ist ein durch und durch unterhaltsamer Abend gelungen, die Zeit vergeht im Flug, die 80 Minuten sind schnell vorbei. Das ist Realsatire – oder nennen wir es politischen Boulevard – at it’s best! Dem voll besetzten Saal hat es offensichtlich sehr gefallen. Mir auch. Tolle Produktion!
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