Orest in Mossul – Schauspielhaus Zürich 05.10.2019

Was für ein Theaterabend! Nach dem Eröffnungsfestival nun also die erste (Übernahme)-Premiere unter der neuen Intendanz des Schauspielhauses Zürich. Einmal mehr hat der Schweizer Regisseur MILO RAU eine beeindruckende Arbeit gezeigt, die lange nachhallt: „Orest in Mossul“…

Im Manifest des NT Gent, dessen Leitung Rau inne hat ist zu lesen, dass er jeweils eine Produktion der Spielzeit in Krisengebieten produzieren will. So sind also er und sein Team ins kriegszerstörte Mossul im Norden Iraks gereist, um dort gemeinsam mit lokalen Künstlern die „Orestie“ von Aischylos zu erarbeiten und aufzuführen. Rau zeigt dabei die endlose Gewaltspirale der antiken Tragödie parallel zur heutigen Situation nach der Befreiung vom IS. Und wie häufig bei Raus Arbeiten gibt es ein Tribunal. Es stellt sich die Frage, wie man mit IS-Kämpfern umgeht? Gleiches mit Gleichem vergelten? Rache? Todesstrafe? Vergebung? Eine Antwort darauf wird man nicht finden, zu gross sind die zugefügten Verletzungen und Begehrlichkeiten. Die Gleichschaltung der antiken Tragödie mit der jüngeren Vergangenheit des Iraks und der Besetzung durch die IS-Truppen funktioniert erschreckend gut. Betroffen ist man nach knapp 2 Stunden Spieldauer allemal von dieser Collage aus Filmeinspielungen der Probenzeit im zerstörten Mossul und live gespielten Szenen der Tragödie, die Grenzen sind fliessend, erzählend, dokumentierend. Für das Ensemble sicherlich eine nachhaltige Probenarbeit im Irak, hier vor Ort und bei vielen weiteren Auftritten an diversen Festivals mit diesem Stück eine zweistündige Beklemmung und Betroffenheit. Starke Momente hat der Abend zuhauf – etwa, wenn man in der Filmeinspielung zwei Schauspieler auf dem Dach eines Hochhauses in Mossul stehen sieht und erfährt, dass von hier Homosexuelle von Kämpfern des IS in die Tiefe gestossen wurden. Die Frage der Nachhaltigkeit muss man sich stellen, denn spätestens beim Verlassen des Theatersaales erwartete einen die helle lichte Premieren-Bussi-Welt mit Häppchen und Cüpli und bereits erstes ausgelassenes Gelächter – das löst Schamgefühle aus, anhand der Betroffenheit, die man vorher im Saal spüren konnte, musste. Grossartige Schauspieler auf der Bühne (Duraid Abbas Ghaieb, Susana  AbdulMajid, Elsie de Brauw, Risto Kübar, Johan Leysen, Bert Luppes, Marijke Pinoy) und eine beeindruckende Umsetzung rütteln auf. Aber ein paar Tage später kommt dann eine gewisse Ernüchterung und die auftauchende Frage, wie gross das Kalkül Milo Raus wohl ist bei einer derartigen Produktion? Und: kann man wirklich so einfach wieder zur Tagesordnung übergehen? Aber was ist die Alternative? Und auch noch die Frage, ob Kunst sich hier am Elend von Menschen bedient. Dennoch: ein wichtiger Theaterabend, den man nicht verpassen darf.

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