Wie grossartig – endlich einmal wieder hervorragendes Sprechtheater! In Zürich seit geraumer Zeit eher die Ausnahmeerscheinung. Dann fährt man eben ins Theater Winterthur mit seinen meist hochkarätigen Gastspielen. Die Wiener Burg zeigt George Taboris Farce „Mein Kampf“ in einer Inszenierung des israelischen Regisseurs ITAY TIRAN…
Das Stück ist mittlerweile über 30 Jahre alt und immer noch ist einem in den gut 2 Stunden nach vielen Lachern, obwohl einem eher zum Weinen ist. Ich habe das Stück erstmals 1988 in einer Produktion am Schauspielhaus Nürnberg gesehen und diese groteske Handlung (nebst Mitzi, dem Huhn) ist mir immer noch lebhaft in Erinnerung. Diese Wiener Produktion (aus dem grossen Haus, die UA fand noch im Akademietheater statt) hat den Text etwas aufgepeppt, er ist immer noch stark, brisant und bitter, eckt heutzutage wohl nicht mehr an, es ist fast so, als hätte der Schrecken des Nationalsozialismus etwas verloren. Man hätte sich von der Regie etwas mehr Mut, etwas mehr aktuellen Bezug und Zitate gewünscht und dennoch gibt es immer noch Momente, in denen man schlucken muss, wenn man zusieht, wie dieses riesige Baby aus Braunau am Inn – Adolf Hitler – sich zum Massenmörder entwickelt und mehr oder weniger subtil all das, was noch kommt, sich in diesem Wohnheim in Wien manifestiert. Schlomo inszeniert und arrangiert im Grunde genommen jeden Moment des Handlungsverlaufs und verstärkt somit immer wieder die grosse Frage, den Subtext des Stückes, hätte ein Jude Hitler verhindern können, genau so, wie er den Hass und die Rassentheorie des Diktators verstärkt hat mit den Erlebnissen in jungen Jahren, in Wien, nach der Absage an der Kunstakademie? In Zeiten des Erstarkens rechter Gruppierungen und erzkonservativer Politik erscheint die Inszenierung fast ein wenig weichgespült, hier hätte man sich etwas mehr Statement und Brisanz des Regisseurs gewünscht (vor allem im stockkonservativen Österreich). Das Bühnenbild – so schlicht, wie grossartig aus massiver deutscher Eiche – ist von JESSICA ROCKSTROH, zum Einlass dudelt bereits die Tannhäuser-Overtüre aus dem Kofferradio. Der Auftritt von Frau Tod (SYLVIE ROHRER) höchstpersönlich ist immer noch grandios, sie interessiert sich nicht für Hitlers Leiche, sondern schwärmt von einer grossartigen Zusammenarbeit und davon, dass er „als Täter, als Würgeengel ein Naturtalent“ ist. Das ein oder andere textliche war wohl zur Entstehungszeit des Stückes noch in Ordnung, mutet heute jedoch etwas seltsam an, wie etwa das devote und fast schon unterwürfige Frauenbild, auch hier hätte man wohl textlich noch etwas überarbeiten können. Dies wird vor allem offensichtlich beim Besuch von Schlomos Geliebter Gretchen (LILI WUNDERLICH als blondes, blauäugiges germanisches Mädel, das seine Lust gegen Gummibärchen verkauft). Nichtsdestotrotz ist „Mein Kampf“ immer noch ein grossartiges Stück und in dieser Besetzung eine Wucht! MARCEL HEUPERMANN spielt den jungen Hitler als tapsiges und dennoch permanent bedrohliches Riesenbaby in zu grosser Unterwäsche, MARKUS HERING ist ein Hitler liebevoll umsorgender Schlomo Herzl (mit vielen feinen Nuancen und Untertönen), grossartig auch OLIVER NÄGELE als Lobkowitz (in der Uraufführung von Tabori noch selbst gespielt). Nur ein relativ kurzer Auftritt zum Ende und doch mit überwältigender Präsenz: RAINER GALKE als Himmlisch. Spätestens ab seinem Auftritt wird klar, wohin die Reise (Hitlers) gehen wird. Taboris Stück greift historische Fakten auf und überdreht sie bis zur Unkenntlichkeit und doch ist es ein aktuelles, zeitgemässes, wichtiges Stück, vor allem in unserer Zeit, in der immer mehr geleugnet, beschönigt, gefaked, vergessen wird.
Zuletzt besuchte Schauspielproduktionen:
EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz – Theater Neumarkt Zürich 01.02.2023
Die Physiker – Theater Basel 17.12.2021
King Lear – Schauspielhaus Zürich 15.12.2021
Monkey Off my Back or The Cat’s Meow – Schauspielhaus/Schiffbau 12.12.2021
Orpheus – Schauspielhaus Zürich/Schiffbau 22.09.2021
Lieder ohne Worte – Theaterhaus Gessnerallee 20.06.2021
Das Weinen (Das Wähnen) – Schauspielhaus Zürich 18.10.2020
Der Mensch erscheint im Holozän – Schauspielhaus Zürich 01.03.2020
Orest in Mossul – Schauspielhaus Zürich 05.10.2019
10 x 10 Abschlussfest Intendanz Barbara Frey – Schauspielhaus Zürich 29.06.2019
„Die grosse Gereiztheit“ – Premiere/Schiffbau 15.05.2019
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Über Aktualisierungsbedarf und Mut kann man sich streiten, aber grundsätzlich bin ich deiner Meinung: richtig gutes Theater!
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