Das wunderbare Projekt „Menschliche Regungen“ des Deutsch-Schweizer Autoren Tim Krohn zieht den Leser sofort in den Bann. Mit viel Liebe und detailreich ausgestalteten Figuren und ihren alltäglichen Geschichten in einem Zürcher Wohnhaus begeistert er mittlerweile eine grosse Fangemeinde und Leserschaft, leider sind für die Verlage die Verkaufszahlen so viel wichtiger als dieses wunderbare Projekt, weshalb es nun etwas brach liegt…
Bereits ab den ersten Kapiteln – die jeweils einer „menschlichen Regung“ gewidmet sind – spürt man die Sogwirkung dieses Kosmos, den Autor Tim Krohn erschaffen und in einem Genossenschaftshaus in der Zürcher Röntgenstrasse angesiedelt hat. Den liebevoll erschaffenen Figuren und ihren Geschichten kann man sich einfach nicht mehr entziehen. Da gibt es das griechische Paar Efgenia und Adamo Costa, deren Tun und Denken überwiegend aus Sex besteht, in allen Lagen und Konstellationen; überhaupt ist das Sexleben in diesem Haus äusserst rege und vielschichtig – von den beiden Youngsters Petzi und Pit über Hubert Brechbühl, der mit der Esoterikerin Edith-Samyra im Herbst des Lebens seine erste Liebe und Erfüllung findet, bis hin zu Moritz (dem von vielen Bewohnerinnen heiss begehrten Studenten) und den beiden Oldies Gerda und Erich Wyss, deren Liebe bereits über 50 Jahre andauert. Es gibt die Schauspielerin Selina May und die Lektorin Julia Sommer samt ihrer Tochter Mona, sie alle stehen im Zentrum und sind gleich gewichtet. Aktuelles Zeitgeschehen der frühen 00er Jahre des neues Jahrtausends wird zitiert, abgearbeitet, ist Bestandteil des Lebens in dieser Gemeinschaft. Auch die Zäsur 9/11 bewegt und stimmt die Hausgemeinschaft nachdenklich. Und kaum beendet man den ersten Band, nimmt man auch schon den nächsten Band zur Hand, weil man wissen möchte, wie sich das Leben in dieser illustren Hausgemeinschaft weiterentwickelt. Trotz der auferlegten Regungen und den zu verwendenden 3 Begriffen als Vorgabe seitens der geldgebenden Leser, liest sich dieses Projekt zu keinem Zeitpunkt bemüht oder konstruiert, sämtliche Figuren und ihre Handlungen sind und bleiben äusserst lebensnah, real, glaubwürdig. Es gibt keinen Fokus auf einzelne Figuren, der Fokus liegt auf der – trotz zeitweiliger Schwierigkeiten – gut funktionierenden Hausgemeinschaft.
Die Romanserie „Menschliche Regungen“ entstand 2015 als Crowdfunding-Projekt und so konnte man aus einer langen und immer wieder erweiterten Liste menschlicher Regungen (von Aalglätte bis Zynismus) auswählen und zusätzlich bis zu drei Wörter oder Zahlen angeben, die Krohn mit der Geschichte verwebt hat. Somit wurde man zum Unterstützer dieses Projektes. Mittlerweile sind bereits 3 Romane erschienen (zunächst im Berliner Galiani-Verlag, mittlerweile als Taschenbuch-Ausgabe bei Diogenes): „Herr Brechbühl sucht eine Katze“, „Erich Wyss übt den freien Fall“ und „Julia Sommer sät aus“. Dabei wird kein Thema ausgeklammert, Bewohner kommen und gehen, sterben, leben, lieben, hassen – allerdings im glaubwürdigen Rahmen und nicht als geballte Handlungsladung, wie man das häufig von Soaps wie „Lindenstrasse“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ gewohnt ist. Sämtliche Personen sind absolut authentisch, glaubwürdig, man schliesst jede*n einzelne*n davon ins Herz. Und kann es nicht erwarten, bis der nächste Band erscheint und man in neuen Episoden menschlicher Regungen am Leben der Bewohner teilnehmen kann. Leider ist jedoch auf der Projekt-Homepage aktuell zu lesen, dass sowohl Galiani, als auch Diogenes nicht daran interessiert sind, den bereits geschriebenen vierten Band zu veröffentlichen – such a shame!
Band 1: „Herr Brechbühl sucht eine Katze“ von Tim Krohn, Diogenes Verlag, 2018, ISBN: 978-3-257-24445-8 (Werbung)
Band 2: „Herr Wyss übt den freien Fall“ von Tim Krohn, Diogenes Verlag, 2019, ISBN: 978-3-257-24471-7 (Werbung)
Band 3: „Julia Sommer sät aus“ von Tim Krohn, Diogenes Verlag, 2020, ISBN: 978-3-257-24501-1 (Werbung)
Mehr Infos zum Projekt findet man hier: Menschliche Regungen
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe von zwei Bänden Rezensionsexemplare kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Diogenes Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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