Die Autorin Stefanie de Velasco wuchs in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas auf und legte nach ihrem Debütroman „Tigermilch“ von 2013 nun einen sehr lesenswerten Roman vor, der das Leben und die Ideologie dieser Sekte beschreibt. Sehr autobiographisch geprägt erzählt sie die Kindheit und frühe Jugend von Esther und ihrer besten Freundin Sulamith und deren beschwerlichen Weg bis zum Ausstieg…
Das ist nicht nur spannend erzählt, man erfährt auch sehr viele Details aus dem religiösen Alltag und erhält viele Einblicke in die Mechanismen und Strukturen der Glaubensgemeinschaft, die vom „grossen und verständigen Sklaven“ geleitet wird, wie die Anhänger selbst die leitende Körperschaft in Brooklyn nennen. Das diese in den USA sitzt verwundert nicht. Als Leser ist man fasziniert, wie durchorganisiert es dieser Sekte gelingt, neue Mitglieder zu werben und für sich zu gewinnen. Stellenweise hat diese Geschichte sogar eine ganz eigene Komik, etwa wenn ein gewaltiges Gewitter losbricht und die Gemeinschaft sich auf Harmagedon vorbereitet. Dies und viele weitere Geschehnisse entsprechen sicherlich den Tatsachen – selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft oder gerade deswegen, weil offensichtlich immer mehr Menschen auf der Suche nach Glaube und Spiritualität sind (wobei es für meine Begriffe weitaus spirituellere Religionen gibt, als die lebensverweigernde christlich-fundamentalistische Gemeinschaft der Zeugen Jehovas…).
Vom Aufwachsen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Klug, rasant und herzzerreißend: Stefanie de Velascos aufrüttelnder Roman gibt Einblick in eine verborgene Welt und erzählt von einem Emanzipationsprozess, der sämtliche Fundamente zum Einstürzen bringt. Ein ostdeutsches Dorf kurz nach der Wende. Die junge Esther wurde über Nacht aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um hier, am anderen Ende der Republik, in der alten Heimat ihres Vaters, mit der Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen. Während die Eltern als Sonderpioniere der Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus ziehen, um im vom Mauerfall geprägten Osten zu missionieren, vermisst Esther ihre Freundin Sulamith schmerzlich.
Mit Sulamith hat sie seit der Kindheit in der Siedlung am Rhein alles geteilt: die Fresspakete bei den Sommerkongressen, die Predigtdienstschule, erste große Gefühle und Geheimnisse. Doch Sulamith zweifelt zunehmend an dem Glaubenssystem, in dem die beiden Freundinnen aufgewachsen sind, was in den Tagen vor Esthers Umzug zu verhängnisvollen Entwicklungen führt. Während Esther noch herauszufinden versucht, was mit Sulamith geschehen ist, stößt sie auf einen Teil ihrer Familiengeschichte, der bislang stets vor ihr geheim gehalten wurde. Poetisch, wortgewandt und mit unwiderstehlicher Kraft führt uns dieser Roman in eine Welt, die mitten in der unsrigen existiert und dennoch kein Teil von ihr ist. Und stellt eine unvergessliche junge Frau ins Zentrum, die alles daran setzt, selbst darüber zu bestimmen, welche Erzählungen ihr Halt geben (Kiepenheuer & Witsch Verlag)
Der Inhalt des Romans fesselt, ist aber immer ein wenig unentschieden, ob er stilistisch denn nun fiktiv oder eher autobiographisch daher kommen soll. Gleichzeitig schildert er auch die vorherrschende Diskrepanz zwischen alten und neuen deutschen Bundesländern – der Roman spielt grossenteils nach der Wende. Das die Autorin über sich und ihre Vergangenheit schreibt ist klar – so kann das nur jemand, der in dieser Sekte gross geworden und diesen ganzen Humbug tatsächlich miterleben musste. Schade, wird die Verfolgung der Sekte im Dritten Reich nur angedeutet. Die Figur der Grossmutter bleibt ebenso nebulös, hier hätte man als Leser gerne etwas mehr erfahren, ebenso zum ominösen Onkel Micki. Fokus ist und bleibt die Protagonistin Esther und ihre beste Freundin Sulamith und der lange Weg bis zum Ausstieg. Bis dahin erhält man interessante Einblicke in diese Gemeinschaft mit ihren abstrusen Lehren. Dabei ist es wohltuend, dass es sich nicht um eine persönliche Abrechnung handelt, sondern dies in Romanform mit fiktiven Charakteren erfolgt. Die Autorin springt immer wieder zwischen verschiedenen Zeitebenen und schafft auch für den Osten Deutschlands kurz nach der Grenzöffnung ganz eigene Bilder, das liest sich spannend und so ist es nicht nur ihre persönliche Geschichte als Coming-of-Age-Story, sondern eben auch ein Panorama dieser Zeit. Am spannendsten jedoch waren für mich die Einblicke in diese existierende Parallelwelt, die man nur am Rande mitbekommt, wenn man die Zeugen Jehovas mit ihren Traktaten in der Fussgängerzone missionieren sieht. Dieser Roman ist wirklich sehr zu empfehlen.
„Kein Teil der Welt“ von Stefanie de Velasco, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 2019, ISBN: 978-3-462-05043-1 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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Mir ging es mit dem Roman ebenso – die Einblicke in diese Parallelwelt fand ich sehr spannend und aufschlussreich. Allerdings sehe ich die erwachsenen Vertreter der Zeugen, die mir ab und an im Stadtbild begegnen, nun mit sehr kritischeren Augen an. Aber ich empfand es ebenso als schade, dass die Rolle der Großmutter und die Verfolgung der Zeugen während des Nationalsozialsmus nicht auserzählt wurde und dass der Roman manchmal etwas zwischen den Ebenen schwankt – da hätte ich mir gewünscht, die eigentliche Geschichte, die der Mädchenfreundschaft und des Erwachsenwerdens, würde mehr vorangetrieben.
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