Jean-Baptiste Del Amo – Tierreich.

Jean-Baptiste Del Amo erzählt in seinem Roman „Tierreich“ eine faszinierende und fesselnde Geschichte, sie erschüttert und nimmt gefangen zugleich. In deutlichen Bildern und einer teils drastisch schildernden Sprache erzählt er vom Verhältnis unserer Gesellschaft zu (Nutz-)Tieren. In diesem Fall das Schwein als Rohstoff, ausgebeutet, unwürdig gezüchtet und als Lebewesen misshandelt: nicht als Sachbuch, sondern als Generationen-Roman – von den Ursprüngen vor dem ersten Weltkrieg bis zur heutigen Massentierhaltung. Das ist stellenweise abscheulich und schwer zu ertragen, gleichzeitig grosse Literatur…

Bereits das erste Kapitel „Diese verdammte Erde (1898-1914)“ zieht den Leser in den Bann und fasziniert mit einer detailreichen gnadenlosen Beschreibung des kargen und entbehrungsreichen Alltags einer einfachen Bauernfamilie. Als Leser ist man erschüttert über dieses harte und entbehrungsreiche Leben, erzählt in klarer und drastischer Sprache die umwirft. Die Übersetzerin Karin Uttendörfer findet für dieses Leben die richtigen berückenden Worte. So etwa, wenn die Mutter (die namenlos bleibt und nur die Erzeugerin genannt wird) ihr Neugeborenes zur Sau in den Stall legt, da ihre versagende Brust nicht genug Milch abgibt. Um das zu ermöglichen, nimmt sie der Muttersau eines der Ferkel weg und bricht ihm das Genick. Oder wenn sie die liebevoll von der Tochter Éléonore aufgezogenen Kätzchen vergiftet und das Kind diese dann mit blossen Händen in der harten Erde am Waldrand verscharrt. Dazu der kranke und nicht arbeitsfähige Vater sowie die schwierige Zeit vor und während des ersten Weltkriegs, in dem das eh schon schwierige Leben noch schwieriger wird. Über all dieser Mühsal liegt eine erdige mühselige Schwere, ein bedrückendes unsagbar beschwerliches hartes Leben. Man arbeitet sich auf, kommt zu nichts. Und alles zu Lasten der Tiere, dem Rohstoff, dem man sein Leben zu verdanken hat. In dieser klaren Erzählweise hat man das selten gelesen, das ist stellenweise fast unerträglich. Jeder Lichtblick, jedes aufkommende Glück oder die Hoffnung auf Liebe, wird sofort im Keim erstickt, es ist eine Welt die erschöpft und nur von roher Gewalt, Hass und Misstrauen geprägt ist, sowohl innerhalb der Familie, als auch nach aussen zur Dorfgemeinschaft, die man meidet.

Während Europa von Kriegen und Umwälzungen erschüttert wird, kämpft eine Familie von Schweinezüchtern um ihr Fortbestehen – und nutzt die in immer größerem Maßstab stattfindende Ausbeutung des Rohstoffs Tier, um sich in unsere heutige, hochindustrialisierte Welt hinüberzuretten. Éléonore, Kind eines kranken Vaters und einer lieblosen Mutter, erbt Anfang des 20. Jahrhunderts von ihren Vorfahren Schweine und die Gewissheit, dass Gewalt gegen Mensch und Tier zum Leben dazugehört. Mit Disziplin und unbändiger Härte gegen sich selbst allen Schicksalsschlägen trotzend, hält sie den landwirtschaftlichen Betrieb aufrecht und versteht es, ihn über die Jahrzehnte hinweg zu vergrößern und später ihrem Sohn Henri zu übergeben. Achtzigjährig erlebt die erschöpfte Matriarchin schließlich, wie dieser mit ihren Enkeln Serge und Joël den familiären Zuchtbetrieb zu einer gigantischen, die Ressource Tier grausam ausbeutenden Tierfabrik ausbauen. Das anonymisierte Elend der Schweine spiegelt nicht nur den Wahnsinn dessen, was die Menschheit unter Fortschritt versteht, sondern wirft auch die Frage auf: Wer sind die eigentlichen Bestien? (Verlag Matthes & Seitz)

Während im ersten Teil des Romans das Kind Éléonore im Zentrum des Geschehens steht, ist deren späterer Sohn Henri Dreh- und Angelpunkt des zweiten Teils, der Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (in den Achtzigern) angesiedelt ist. Seine beiden Söhne Serge und Joël nimmt er hart an die Kandarre, um sie zu richtigen Männern zu formen, damit sie im harten neuzeitlichen Schweinezüchter-Alltag bestehen können – der eine hoffnungsloser Alkoholiker, der andere latent schwul in einer harten heterosexuell geprägten Welt. Bereits als Kind müssen sie selbst ihr erstes Schwein schlachten, das traumatisiert und so erfährt man den Niedergang dieser Familie und ihrer Schweinezucht. Über allem steht – nach wir vor – Éléonore, die Matriarchin. Als Gegenpol zu Henri steht der gewaltige Zuchteber „La Bête“ (die Bestie) – aber die Bestien sind hier die Menschen, die sich gegenseitig in diesem harten Leben zerfleischen und gefangen sind zwischen Gülle-Gestank und schrecklichen Misshandlungen an ihren Tieren und der Familie. Grosse Lust auf Schweinefleisch hat man danach nicht mehr. Es ist eine Anklage gegen die Tierzuchtindustrie und ein packender gewaltiger wortgewandter Roman. Das Buch ist wichtig und schrecklich zugleich. Es nimmt gefangen und führt in die Abgründe unserer Gesellschaft. Und es lässt einen nicht mehr los.

„Tierreich“ von Jean-Baptiste Del Amo, 2019, Verlag Matthes & Seitz Berlin, ISBN: 978-3-95757-686-6 (Werbung)

Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar auf Anfrage kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Verlag Matthes & Seitz sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst. 

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