Simone Lappert – Der Sprung.

Eine Frau steht auf dem Dach eines Hauses und wirft Ziegeln hinab, die halbe Provinz-Kleinstadt versammelt sich volksfestähnlich und sieht zu. Endlich ist mal etwas los, man wartet auf den Sprung, auf das Ereignis. In mehreren miteinander verknüpften Geschichten rund um diesen Suizid-Event erzählt die Schweizer Autorin Simone Lappert vom biederen Kleinbürgertum verschiedener Einwohner…

Warum Manu – so der Name der jungen Frau – sich in diese Situation begibt und springen will, ist eher nebensächlich und wird nur kurz angerissen, bildet aber den Bodensatz dieser unterschiedlichen in diesem Roman beleuchteten Einzel-Schicksale. Wie bereits bei ihrem Erstling „Wurfschatten“ von 2014 schafft die Autorin es auch hier, den Leser tief in den Sog der Ereignisse zu ziehen. Und erneut handelt es sich um eine junge, von ihren Zukunftsängsten geplagte Frau. Bereits der erste Satz ein Paukenschlag: „Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füssen. Eigentlich springt sie nicht, sie macht einen Schritt ins Leere, setzt den Fuss in die Luft und lässt sich fallen…“

Eine junge Frau steht auf einem Dach und weigert sich herunterzukommen. Was geht in ihr vor? Will sie springen? Die Polizei riegelt das Gebäude ab, Schaulustige johlen, zücken ihre Handys. Der Freund der Frau, ihre Schwester, ein Polizist und sieben andere Menschen, die nah oder entfernt mit ihr zu tun haben, geraten aus dem Tritt. Sie fallen aus den Routinen ihres Alltags, verlieren den Halt – oder stürzen sich in eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit. (Diogenes Verlag)

Der Zusammenhang der verschiedenen Personen erschliesst sich dem Leser erst nach und nach. Da gibt es – neben einigen anderen interessanten Figuren – den Polizisten Felix, traumatisiert von einem schrecklichen Kindheitserlebnis, der Probleme mit seinem Vorgesetzten hat, Egon, der seinen Laden mit eigenen Hutkollektionen zugunsten eines Handyladens schliessen musste und nun im Schlachthof sein Dasein fristet oder das Mädchen Winnie, das von ihren Mitschülern gemoppt wird und sich in ihre ganz eigene Comic-Welt zurückzieht. Für sie alle verändern die Geschehnisse das Leben, alles ist miteinander verwoben und läuft über Manu oder die Wirtin und Mutterfigur Roswitha (in deren Kneipe sich das Viertel trifft) zusammen. Neben dem aktuellen Geschehen gibt es immer wieder kurze Rückblenden, dadurch werden die Handlungen einzelner Erzählstränge schlüssiger und nachvollziehbarer. Und dennoch bleibt vieles offen und ungelöst. Das stört nicht weiter, denn so ist das Leben. Und so wie man als Leser zu einem bestimmten Zeitpunkt in das Leben dieser Menschen tritt und beobachtet, so verlässt man zum Ende des Buches diese doch recht spiessige Kleinstadt wieder und wendet sich anderen Themen zu. Die Sprache Simone Lapperts schildert diese Abläufe einfühlsam und mit grosser plastischer Hingabe, die Figuren wirken alle sehr real, lebendig, authentisch und das macht wohl auch das Lesevergnügen aus. In vielen Situationen, Momenten und Handlungen erkennt man sich selbst und kann gewisse Dinge nachvollziehen und miterleben. Der Schluss ist dann fast ein wenig enttäuschend, denn so sonnig und positiv ist das wahre Leben eben nicht – dennoch ein sehr schöner Roman, mit dem Simone Lappert 2019 für den Schweizer Buchpreis nominiert war.

„Der Sprung“ von Simone Lappert, 2019, Diogenes Verlag, ISBN: 978-3-257-07074-3 (Werbung)

Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar auf Anfrage kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Diogenes Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst. 

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