Es sind nur 112 Seiten und doch hat man bei Katharina Mevissens neuem Roman das Gefühl in ein ganzes Universum zu blicken – das Universum des Alterns mit all seinen Tücken, Gebrechen, Skurrilitäten, aber auch Schönheiten. Wunderbar, interessant, sprachgewaltig…
Bereits ihr Debüt „Ich kann Dich hören“ war etwas Besonderes, wenngleich auch leicht Verstörendes. Viele Dinge bleiben auch im neuen Werk unbeantwortet, Fragen offen. Das muss man aushalten. Dem Lesevergnügen tut dies keinen Abbruch. Man liest, man wundert sich und hat Freude daran. Viele Metaphern, schöne Bilder, Rätselhaftes. Muss man jedoch mögen.
Mutter ist schon lange kinderlos und hat nun auch noch ihre Stimme verloren. Sie muss sich gänzlich neu erfinden, um wieder stark und laut zu werden. Ein poetischer, kompromissloser Roman über das Älterwerden, einen späten Aufbruch und eine bleibende Sehnsucht. Der Herbst kommt wenig überraschend, doch er erwischt sie kalt. Denn Mutter ist gar nicht bereit: Das Dach noch immer ungedämmt, der Garten längst nicht winterfest. Sie grollt und bockt, sie streikt und schweigt; sie spricht nicht mal mehr mit sich selbst. Es friert sie oft, der Hals tut weh, und alle Zähne wackeln. Vom Regen sind die Brüste schwer. Was macht der neue alte Körper nur? Ist er noch ich? (Wagenbach Verlag)
Sehr schön die Illustrationen von Katharina Greeven. Viele unangenehme Dinge, die das Alter mit sich bringt, werden auf subtile Weise erzählt, schöne Bilder, nicht immer bewertet. Zähne mit grosser Symbolkraft kennt man auch aus der Traumdeutung, hier zentraler Mittelpunkt. Die versagende Stimme ebenso. Und trotz all dieser Unwägbarkeiten, Anstrengungen, Krankheiten, Mühen und Lasten bleibt ein Gefühl der Hoffnung und nicht der Resignation. Ein positiver und nicht uninteressanter Roman.
„Mutters Stimmbruch“ von Katharina Mevissen, 2023, Wagenbach Verlag, ISBN 978-3-8031-3355-7 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Wagenbach Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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