Selten in den Spielplänen zu finden, aber ein wirkliches Ereignis, wenn man die Möglichkeit hat Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ beizuwohnen. Im Theater Basel ist die Inszenierung von Intendant BENEDIKT VON PETER zu sehen, die bereits 2010 für die Staatsoper Hannover entstand und wirklich grossartiges Musiktheater bietet, als Zuschauer ist man auf der Bühne mittendrin im Geschehen, gerade das macht auch die Qualität dieser Aufführung aus…
Das Foyer des Theaters ist mit einer Klanginstallation bestückt, aus alten Radiogeräten sind Ausschnitte der Uraufführung am Teatro La Fenice in Venedig von 1961 zu hören, man hört dabei nicht nur die Musik, sondern auch die Proteste von Neo-Faschisten, die die Aufführung störten. Pünktlich um 19.30 Uhr geht es los, von Guides wird man in den dunklen Zuschauerraum geführt, die Sitzreihen mit weisen Laken abgedeckt, auf dem eisernen Vorhang der projezierte Text „Lebendig ist, wer wach bleibt“ von Angelo Maria Ripellino, im Anschluss an diesen Prolog betritt man die Bühne, die wie ein Trümmerfeld wirkt mit seinen Leitern und herumliegenden Personen, man nimmt Platz, am Boden, auf Stühlen, bleibt Stehen oder wem das zu viel ist, der begibt sich an den Rand, der eiserne Vorhang fährt nach unten, man ist eingeschlossen, ausgeliefert, abgeschottet. Auftakt bildet das Grubenunglück in einem Bergwerk. gefolgt von der grossen Demonstrationsszene des Emigranten/Flüchtlings (PETER TANTSITS), hier vernimmt man viele bekannte Schlachtrufe und Parolen aus den unterschiedlichsten Ländern, während der Verhaftung und Folter (in der nächsten Szene) skandierten bei der Uraufführung 1961 die Faschisten laut „Viva la Polizia“. Erst im zweiten Teil nach dem Konzentrationslager begegnet der Emigrante einer neuen Gefährtin (wunderbar sphärisch INNA FEDORII), sie wird zu einer Stimme der Hoffnung, doch auch zuletzt, wenn der Emigrante seine Heimat erreicht gibt es nur die Hoffnung, dass nach dieser grossen Flut die Möglichkeit für einen Neuanfang steht. Die Wassermassen ergiessen sich an der Rückwand des Bühnenraumes, das komplette Dorf wird zerstört, die Menschen begeben sich in die Flut und sterben, die Zuschauer zurück in den Saal, der eiserne Vorhang schliesst sich und wir sehen Brechts „An die Nachgeborenen“ als Schlussprojektion und mit einem leisen Verklingen des Chores „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / in der wir untergegangen sind / Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid..“ endet das Stück. Man ist ergriffen, beeindruckt, bewegt, das liegt zum einen an der stellenweise brachialen Musik Nonos, aber vor allem natürlich daran, dass diese Musik erlebbar, erspürbar wird. Es ist kein Werk für Einzelstimmen, es ist ein Werk kollektiver Stimmen, es ist ein grosses Chorwerk und es ist heute aktueller denn je, auch wenn man sich etwas mehr Zeitbezug gewünscht hätte, denn Nono als bekennender Kommunist prangerte mit „Intolleranza 1960“ die Missstände des 20. Jahrhunderts an und nahm Bezug auf konkrete gesellschaftspolitische Katastrophen seiner Zeit (ein Grubenunglück in Marcinelle 1956, Demonstrationen in Italien gegen die neofaschistische Restaurantion 1960, brutale Foltermethoden der französischen Besatzer im Algerienkrieg, Überschwemmungen im Po-Delta in den 50er Jahren). Geändert hat sich seitdem nicht wirklich viel. Für Nono war eine Abkehr von der tonalen Musik wichtig, denn es war gleichzeitig eine Abkehr vom Nationalsozialsmus, der diese harmonische Musik für seine Zwecke missbraucht hat – er wollte komplett neue Wege gehen. Und trotz dieser Stärke und Kraft gibt es auch sehr viele lyrische und melodiöse Momente und in Benedikt von Peters Inszenierung für den Zuschauer auf diesem Stationenweg viel zu erleben, etwa, wenn man zusammengetrieben wird wie Vieh oder gemeinsam auf alten Militärdecken in den Schnürboden schaut, die Gedanken ziehen lassen kann und sich ganz der Musik hingeben, die aus der Unterbühne und von den Emporen zu hören ist. Dazwischen überall der kraftvolle Chor des Theaters Basel und die Statisterie sowie einige wenige Solist:innen (JASMIN ETEZADZADEH, KYU CHOI, ARTYOM WASNETSOV, HAEWON JEONG).

Im Anschluss an die Vorstellung besteht die Möglichkeit der Begehung einer Sound-Installation in 4 Teilen, die bis direkt in die Krypta der nebenan gelegenen Elisabethenkirche führt. STEFAN KLINGELE am Pult zelebriert diese Musik mit einer bewundernswerten Bandbreite und Klangvielfalt, schafft unglaublich vielschichtige Atmosphären, die Partitur wirkt manchmal dezent das Szenische begleitend und in einigen anderen Momenten wie bombastische Filmmusik. Diese Produktion von „Intolleranza 1960“ ist eine kollektive Erfahrung, die jeder freiheitsliebende Mensch machen sollte, vor allem in der heutigen Zeit, in der viele Gesellschaften nach einer starken Führung und konservativen Werten streben. Bravi a tutti!
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