János Székely – Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann.

Eine Entdeckung im wahrsten Sinne des Wortes – „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“. 2020 wurde das unveröffentlichte Manuskript auf einem amerikanischen Dachboden in einer von 137 Kisten entdeckt, 710 Seiten auf dünnem Durchschlagpapier. Nun im Diogenes Verlag von Ulrich Blumenbach übersetzt und auf deutsch verlegt…

Das Buch hätte eigentlich in den 60er Jahren erscheinen sollen, hat aber gerade wieder eine sehr aktuelle Brisanz. Ein Dorf am östlichen Ende Europas, ein nicht enden wollender Krieg, Besetzung, Unterdrückung, Verfolgung. Es geht ums nackte Überleben und in diesem Roman konkret um die seit 700 Jahren andauernde Unterdrückung der Bauern in Ungarn – das ist packender Lesestoff…

Im heißen Sommer 1944 wird die Nacht, die vor 700 Jahren begann, immer finsterer. Die Bauern im ungarischen Dorf Kákásd sind erschöpft: von der Hitze, vom Krieg und vom Hunger. Wo eigentlich Überfluss an Weizen herrscht, wo Trauben an Rebstöcken wachsen, werden die Menschen nicht satt, denn die Ernte geht an die Herrschaft im Schloss. Doch seit die ersten Kriegsheimkehrer zurück sind, liegt Rebellion in der Luft. Streik! – ist die Losung. Es geht ums nackte Überleben. Für die Bauern. Für die Kriegsveteranen. Für Marci und Julka, die gerade einem Todeskonvoi entronnen sind. Aber auch für die Obrigkeit, die weiß, dass ihre Welt dem Untergang geweiht ist, wenn sie nicht eingreift. Székely wurde 1901 in Budapest geboren, verließ Ungarn, als Horthy die Macht ergriff, und kam als Achtzehnjähriger nach Berlin. Er verfasste Drehbücher, u. a. für Stummfilme mit Marlene Dietrich. 1934 lud Ernst Lubitsch ihn zur Arbeit nach Hollywood ein, 1938 emigriert er definitiv in die USA. 1940 erhielt er den Oscar für die Buchvorlage zu ›Arise, My Love‹. Sechs Jahre später erschien sein Roman ›Verlockung‹ und machte ihn auch als Schriftsteller berühmt – von der Kritik wurde er dafür mit Dickens, Zola und Fallada verglichen. Während der McCarthy-Ära erneut verfolgt, verbrachte er mit Frau und Tochter sechs Jahre in Mexiko, bevor er 1957 einem Angebot der DEFA in die DDR folgte. Er starb 1958 in Ostberlin. (Diogenes Verlag)

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist die Dreierkonstellation der beiden geflohenen Zigeuner, Julka und Marci und dem Bauern Gáras sowie das allgegenwärtige Phantom des Freiheitskämpfers Dani Kurucz. Im Nachwort ist zu lesen, dass man sich in der deutschen Übersetzung für den Begriff „Zigeuner“ entschied, der im Sprachgebrauch nicht mehr zu finden sein sollte. Das Wort entspricht dem englischen Wort „gypsy“, Székely hat mit grosser Wahrscheinlichkeit im ungarischen Original „cigány“ verwendet. Man kann nicht auf einen anderen Begriff ausweichen, da aus dem Text nicht ersichtlich ist, welcher Gruppe die Protagonisten angehörig sind (waren es Roma? Lovara?). Diese Information ist für den Leser wichtig, denn die Verwendung von „Zigeuner“ ist heutzutage schon sehr irritierend. Überhaupt ist der ausführliche Anhang sehr wichtig und interessant zu lesen. Denn Székelys Biografie und die Geschichte der Entdeckung des Manuskripts bis hin zur Veröffentlichung ist ebenso spannend, wie der Roman selbst – Herausgegeben von Silvia Zanovello. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Mit einem Nachwort von Sacha Batthyany und einer Erinnerung von Katherine Frohriep geb. Székely. Der Roman ist stellenweise sehr bewegend, immer nah an den Figuren, in einzelnen Kapiteln leider auch etwas langatmig, es werden (zu) viele Themen verarbeitet und man weiss nicht, ob der Autor das Manuskript noch etwas gekürzt hätte, dennoch bleibt man als Leser hängen, es ist ein Pageturner. Der Plot ist vielschichtig und erzählt neben dem grossen Erzählstrang auch viele kleine Nebengeschichten und Biografien. Dies ist interessant und gibt einen tiefen Einblick in diese Zeit und die Gräueltaten, die nicht nur in Deutschland stattfanden, sondern in allen von den Nazis besetzten Gebieten. Dies ist erschütternd und erinnert einmal mehr daran, dass diese Vergangenheit nie vergessen werden darf. Bei einigen der erwähnten historischen Momente lohnt sich eine kleine Recherche, um etwas zusätzliches Wissen zu erhalten. Zusätzlich zum Dreiergespann Julka-Marci-Gáras gibt es unzählige interessante Personen, die oftmals bis ins kleinste Detail beschrieben werden. Das Leben in jener Zeit ist gefährlich und hängt nicht nur für die verfolgten Gruppen immer am seidenen Faden, die Chance auf ein Happy End erscheint dem Leser bereits von Anfang an als ein Ding der Unmöglichkeit, ohne hier gross Spoilern zu wollen. „Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“ ist eine Entdeckung und auch wenn es Fiktion, eine erdachte Geschichte ist, liest es sich, als wäre es biographisch, als wäre genau diese Geschichte so passiert und von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden. Der Roman ist aber auch sinnliches Epos mit Liebenden, Verstossenen, grossen Helden, kleinen Feiglingen, Flüchtlingen, Besatzern und Besetzten, unzufriedenen Bauern und arroganten Aristokraten, Prostituierten und Musikern – also ganz grosses Kino!

„Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann“ von János Székely, 2023, Diogenes Verlag, IBAN: 978-3-257-07236-5 (Werbung)

Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Diogenes Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.

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14 Kommentare

  1. frau frogg

    Das ist nun schon eine sehr reizvolle Leseempfehlung, aber man muss sich das gut überlegen, nicht? 700 Seiten! Ich nehme es trotzdem mal auf meine Leseliste. Dass aus Ungarn immer so umfängliche Literatur kommt! Ich habe einmal „Parallelgeschichten“ von Peter Nadas gelesen, das war ein Fest, aber ein langes … 🙂

    Gefällt 2 Personen

    1. arcimboldis_world

      🙂 Ja, Du hast natürlich Recht, das ist schon ein dicker Wälzer, aber ich finde es lohnt sich. Wie beschrieben, ab und zu ein paar Stellen, die man hätte kürzen können/müssen, aber da kann man getrost querlesen. Insgesamt finde ich es eine lohnende Lektüre! enjoy! und herzlichst aus Zürich. A.

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