Alan Hollinghurst – Der Hirtenstern.

Der einzige Roman des englischen Autors Alan Hollinghursts, der nicht zeitnah auf deutsch übersetzt und veröffentlicht wurde – „Der Hirtenstern“ (im Original „The Folding star“) von 1994 – liegt nun auf deutsch beim Albino Verlag vor…

Nach seinem vierten Roman „Die Schönheitslinie“ von 2004 für den Hollinghurst den Booker Prize erhielt (erstmals für einen Roman mit überwiegend schwuler Thematik) und seinem gelungenen generationenübergreifenden Gesellschaftsroman „Die Sparsholt-Affäre“ von 2017 ist man als Leser gespannt auf dieses frühe Werk des Autors, der für seinen eher klassisch angehauchten Schreibstil bekannt ist und immer ein wenig an einen modernen Henry James erinnert. Er thematisiert schwules Leben im Laufe des 20. Jahrhunderts in all seinen Werken und ist stilistisch wohl einer der begabtesten Schriftsteller der englischen Gegenwartsliteratur.

Mit Anfang dreißig entflieht der verhinderte Schriftsteller Edward Manners der Orientierungslosigkeit seines Daseins in der südostenglischen Provinz, um im belgischen Brügge als Privatlehrer zu arbeiten. Bereitwillig lässt er sich vom modrigen Charme der altehrwürdigen Handelsstadt in den Bann ziehen, erkundet ihre engen Gassen, zwielichtigen Kneipen und versteckten Parks, in denen schwule Männer sich zum Sex treffen. Nebenbei findet er Gefallen an den Gemälden des belgischen Symbolisten Edgard Orst. Und er verliebt sich in seinen Schüler Luc. Seine rückhaltlose Bewunderung nimmt bald schon obsessive Züge an. Als Edwards Gefühlsleben endgültig zum Abbild der hysterischen Entrücktheit der Orst-Gemälde zu werden droht, erzwingt ein Todesfall seine Rückkehr nach England. (Albino Verlag)

Leider muss an sagen, dass bereits das Cover keine grosse Lust auf den Roman macht, ja mich persönlich sofort total ablöscht. Es erinnert an schwule Soft-Porno-Literatur. Aber ich nehme den Roman zur Hand und lese ihn, denn der Plot klingt interessant und Hollinghurst bisher erschienenen Romane fand ich unterhaltsam. Die Ankündigung verspricht Referenzen an literarische Werke wie Thomas Manns „Tod in Venedig“ sowie an symbolistische Maler. Es ist ein regnerischer Ferientag. Das passt also für einen dicken Schmöker. Literarisch gibt es wirklich tolle Momente, etwa gleich zu Beginn die Beschreibung des kleines Marktes in Brügge, das macht aber die unzähligen langweiligen Seiten nicht wett, über die man schnell hinweg liest, um zum Ende zu kommen. Ist man fertig, stellt man leider fest, dass es einer jener Romane ist, die einen ziemlich unbefriedigt zurücklassen und man sich nach 620 Seiten fragt, ob es das also nun gewesen sein kann. Der Roman hinterlässt eine derartige Ratlosigkeit und Enttäuschung, dass es sich ohne Zweifel nur um ein frühes Werk Hollinghursts handeln kann. Natürlich gibt es da diese „unmögliche“ Liebe des Lehrers zu seinem Schüler Luc, aber alles ist vorhersehbar und nimmt zuletzt Wendungen, die mir als Leser nun wirklich die Augen verdrehen lässt. Gleichzeitig verwurstet Hollinghurst die Lebensgeschichte des fiktiven Malers Edgard Orst (das allerdings glaubwürdig und interessant), den Nationalsozialismus samt Juden-Deportation oder das nicht wirklich gelebte schwule Leben von Manners Arbeitgeber, dem Direktor des Orst-Museums. „Der Hirtenstern“ bietet viele schöne Details und Kleinigkeiten, einen blühenden Ideenreichtum, aber es ist einfach alles zu viel des Guten. Hollinghurst kommt nicht auf den Punkt, stattdessen quält man sich durch unzählige schwule Quickies im Park, in diversen Betten und erfährt von der eher trögen schwulen Szene einer belgischen Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und die promiskuitive Seite voll ausgelebt wird. Man erahnt in diesem Werk die späteren literarischen Qualitäten des Autors, aber sonst ist dieser frühe Roman Hollinghursts eher belanglos und Zeitverschwendung.

„Der Hirtenstern“ von Alain Hollinghurst, 2022, Albino Verlag, ISBN: 978-3-86300-331-9 (Werbung)

Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Albino Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.

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