Sehr bewegend und keine leichte Lektüre – Afonso Reis Cabrals preisgekrönter Roman „Aber wir lieben Dich“ basiert auf Ereignissen zu Beginn der 2000er Jahre, die ganz Portugal erschütterten. Ausgezeichnet mit dem bedeutenden Literaturpreis Premio José Saramago und packend von Anfang bis zum Ende…
Ziemlich schnell entfaltet der Roman eine Sogwirkung, der man sich nicht mehr entziehen kann. Man ist abgestossen und erschüttert, man kann es fast nicht fassen, diese verstörenden Handlungen junger Menschen im Umgang mit der obdachlosen Transfrau Gisberta. Das schockierendste ist aber diese Gewalt, dieser Gruppenzwang, diese Zerrissenheit des Ich-Erzählers Rafael, aus dessen Perspektive der Tathergang geschildert wird, den der Autor mit einer Mischung aus recherchierten Fakten und Vermutungen füllt und so die Ereignisse zu einem Ganzen zusammenfügt. Die Tat ist bis heute nicht restlos aufgeklärt und wird es wohl auch nie werden.
„Wir lieben dich Gisberta“ – rufen ihr die Freier und die Zuschauer der Show zu, bei der die trans Frau als Marylin Monroe posiert. Als sie später in einer Bauruine in Porto haust, kümmert das niemanden mehr. Rafa, der sie als Erster dort entdeckt, ist stolz auf sein ungewöhnliches Geheimnis. Es ist die Begegnung zweier Menschen am Rande der Gesellschaft. Doch dann wird ihm klar, dass auch die Frau ein Geheimnis hat. Zerrissen zwischen Attraktion und Verachtung, Gruppenzwang und Geltungsdrang, gleitet Rafa in eine Spirale des Bösen. Wer ist schließlich schuldig – die Jungen, die Gesellschaft? (Hanser Verlag)
Feinfühlig und mit grosser Sensibilität erzählt der Autor die Geschichte und führt uns unaufhaltsam dem Ende entgegen, das sich ziemlich rasch abzeichnet und das man auch bereits weiss – am Ende steht der Mord und die Fassungslosigkeit über diese Tat. Das interessante an der Story ist diese Zerrissenheit von Rafael, hin- und hergerissen zwischen der zarten Freundschaft zu Gisberta und dem Willen dazugehören zu wollen, zu müssen. Das ist fast unerträglich. Aber verständlich, wenn man weiss, dass diese Jungs, auf der Schwelle vom Kind zum Jugendlichen, aus schwierigen Verhältnissen stammen und im Heim leben. Gefühle wie Zuneigung und sentimentale Hilfsbereitschaft werden versteckt, es geht um Selbstbehauptung, Rollenverteilung und Rangordnung. Es geht ums Überleben. Und letztendlich ist da noch die aufkeimende und wohl durch das katholische Heim unterdrückte Sexualität der Jugendlichen. Dieser Roman beschäftigt mich sehr. Dieser Roman ist absolut Lesenswert!
Anmerkung: Das Verbrechen wurde von einer Gruppe, bestehend aus ca. 12 – 14 Jugendlichen, verübt. Sie waren zu dieser Zeit zwischen 12 und 16 Jahre alt und lebten in einem katholischen Heim zum „Schutz“ Minderjähriger. Man geht davon aus, dass in diesem Heim auch Misshandlungen stattfanden. Gisberta Salce Júnior wurde von ihnen 3 Tage lang gefoltert, anal mit einem Stock vergewaltigt und anschliessend noch lebend in eine Grube geworfen, in der sie verstarb. Die portugiesischen Medien verzerrten den Vorfall zunächst komplett und weigerten sich ein Foto von ihr zu veröffentlichen, das politische Establishment und der Staat verharmlosten es. Nur durch internationalen Druck und dem Engagement von Organisationen ist es zu verdanken, dass Gisberta nicht vergessen wird.
„Aber wir lieben Dich“ von Afonso Reis Cabral, 2021, Hanser Verlag, ISBN: 978-3-446-26920-0 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Hanser Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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