Walkways: W. McGregor/C. Marston/J. Robbins – Ballett Zürich Premiere 6.10.2023

Zur Saisoneröffnung des Ballett Zürich zeigt die neue Direktorin CATHY MARSTON den dreiteiligen Abend „Walkways“ mit Choreographien von WAYNE MCGREGOR, JEROME ROBBINS und als Mittelteil eine eigene Arbeit. Zu sehen sind an diesem Abend eine immense Bandbreite unterschiedlicher Stilistiken sowie die vielen interessanten Neuzugänge im Ensemble…

Marstons Anspruch dieses ersten grossen Abends unter ihrer Leitung ist es, das Ensemble zusammenzuführen, in seinem künstlerischen Schaffen, aber auch im Umgang miteinander, ohne den Druck einer Uraufführung im Nacken zu haben. Das macht durchaus Sinn und auf den ersten Blick nach gut 2.5 Stunden Aufführungsdauer wird klar – das neu zusammengestellte Ensemble ist diverser und internationaler, eine Einheit bildet es jedoch (noch) nicht. Ziel verfehlt? Nein, aber das braucht wohl mehr Zeit, als die mehrwöchige Probezeit für diese erste Produktion mit dem kompletten Ensemble sowie dem Junior Ballett. Marstons Konzept des Abends ist es, „Stücke zu zeigen, die für eine gewisse Aufbruchstimmung, für einen Neubeginn stehen… in allen drei Stücken erleben wir Aufbrüche und all jene Interaktionen, die entstehen, wenn sich Wege kreuzen“ – Walkways. WAYNE MCGREGOR, der für das Zürcher Ballett bereits vor einigen Jahren das Stück „Kairos“ geschaffen hat, bildet den Auftakt zu diesem Triptychon: „INFRA“ heisst sein Stück, welches 2008 für das Royal Ballet (Covent Garden) entstand. Faszinierend bei seinen Arbeiten ist immer die Verbindung zwischen Tanz, Technik und Wissenschaft und so sehen wir auch dieses mal eine Videowall als Setting, ein animiertes Bühnenbild des britischen Künstlers JULIAN OPIE. „Infra“ entstand nach den Londoner Bombenanschlägen von 2005 und reflektiert die Verletzlichkeit der urbanen Stadtgesellschaft, McGregor schaut hinter die oberflächliche Fassade der Grossstadt und erforscht, zeigt, bebildert im Kleinen und Detailhaften menschliche Geschichten, greift sich Einzelpersonen und Paarungen heraus, auf die er seinen Blick wirft, inmitten der Alltagshektik einer Grossstadt. Das funktioniert, hat eine immense Sogwirkung, die Musik von MAX RICHTER liegt, schwebt darüber, darunter und verbreitet eine seltsame Melancholie. Es gibt in dieser vordergründig anmutenden Alltagsszenerie immer wieder aufblitzende Momente der Angst und des Schmerzes, der Verletzlichkeit. Zusammen mit der Videowall bilden die Tänzer:innen eine Einheit, eine Momentaufnahme, immer in ständiger Bewegung, umso erschreckender, wenn sich aus der Menge eine Einzelperson löst und offen ihren Schmerz, ihre Verletzlichkeit zeigt. Das irritiert und erscheint fast grotesk.

Im Anschluss – als Mittelteil – gibt es die Arbeit „SNOWBLIND“ von CATHY MARSTON zu sehen. Das Stück basiert auf Edith Whartons Roman „Ethan Frome“ und erzählt von der zerstörerischen, toxischen Dreieecksbeziehung des Farmers Ethan in der freudlosen Ehe mit seiner hypochondrischen Frau Zeena und deren Cousine Mattie, die zur Unterstützung ins Haus kommt und mit Ethan ein Verhältnis eingeht. In dieser ausweglosen Situation beschliessen Mattie und Ethan in einem Schneesturm zu sterben. Das klingt dramatisch, ist es auch und so sehen wir viel Realismus und ausbrechende Emotionen und nach der Arbeit McGregors erscheint dieses Stück seltsam hausbacken, fast schon etwas altmodisch mit seinen überbordenden Gefühlen – jedoch mit grossem verdichtet erzählerischem Können – und den Schneesturm tanzenden Ensemble in weich fallenden Kostümen. Wären da nicht die letzten Minuten, die letzten getanzten Sequenzen, dieses verschlungene und sehr bewegende Pas de trois, bevor sich über allem die Dunkelheit senkt – die Abhängigkeit der drei Protagonisten, diese Ausweglosigkeit aus dieser Situation, diese Mischung aus Liebe, Mitleid und gescheitertem Lebensentwurf – das ist sehr ergreifend und von CHARLES-LOUIS YOSHIYAMA (Ethan, der Farmer), DORES ANDRÉ (Zeena, seine Frau, deren Leben und jegliche tänzerische Bewegung sich aus der Krankheit nährt) und SHELBY WILLIAMS (Mattie, voller Lebenslust) hinreissend getanzt. Diese sich immer wieder ineinander verschlingenden, sich verbindenden Körper – das hat bereits letzte Saison bei Marstons wundervoller Arbeit „The Cellist“ beeindruckt und sich tief eingebrannt.

Den Abschluss des Abends bilden die „GLASS PIECES“ von Jerome Robbins, dessen Choreographien in der Schweiz eher selten bis gar nicht zu sehen sind, den man wohl auch eher im Kontext mit dem Broadway, mit Bernstein, mit der „West Side Story“ kennt. Und so wirken diese drei Stücke – mit der herrlichen Musik von Philip Glass – seltsam aus der Zeit gefallen. Das liegt natürlich an den doch sehr dominanten 80er-Jahre-Kostümen, aus dieser Zeit stammen auch die drei Choreographien (UA 1983 am New York State Theater vom New York City Ballet). Die hypnotischen Musiken Glass‘ entfalten auch hier zwangsläufig ihre Sogwirkung. Im ersten Teil „Rubric“ sehen wir das farbenprächtige Ensemble die Bühnentotale durchqueren, während 3 Solistenpaare (AURORE ALEMAN LISSITZKY/ESTEBAN BERLANGA/GIULIA TONELLI/MAX CAUTHORN/GIORGIA GIANI/WEI CHEN) – quasi als Störfaktor – irritieren und zu neuen Bewegungen animieren. Der zweite Satz „Façades“ zeigt ein Pas de deux (wundervoll wie immer: ELENA VOSTROTINA mit ihrem Partner BRANDON LAWRENCE), begleitet von sich rhythmisch im Schattenwurf bewegender Tänzerinnen. Zuletzt bildet „Akhnaten“ ein buntes, stellenweise an „Jets und Sharks“ erinnerndes Ensemble, grossenteils leider etwas unsauber, was der Synchron-Wirkung der Bewegungen einiges nimmt und somit nicht wirklich für ein furioses Finale des Premieren-Abends sorgt. Anyway, wir wissen alle, dass Premieren nicht die besten Vorstellungen sind, sich das sicherlich noch einspielt und dann sauber getanzt Begeisterungsstürme hervorrufen wird.

Man ist so konzentriert auf das Bühnengeschehen, dass man fast vergisst, dass all diese wunderbaren Musiken live aus dem Graben kommen. Bravi! Am Pult der Philharmonie Zürich steht DANIEL CAPPS. Der Wunsch Cathy Marstons, dass sich mit diesem „Triple Bills“-Abend die beiden abstrakten Choreografien von McGregor/Robbins mit ihrem Handlungsballett verbinden, sie sich zu einer Einheit ergänzen, ohne ähnlich zu sein – das geht für mich nicht wirklich auf. Der Applaus des Premierenpublikums ist auch eher verhalten. Nach dem ersten Vorhang geht bereits das Saallicht an, für das sonst sehr ballettbegeisterte Zürcher Publikum eher ungewöhnlich. Klar ist jedoch, dass eine neue Ära angebrochen ist, dass es frischen Wind gibt und man Cathy Marston mit ihren Plänen, Wünschen, Vorstellungen für Zürich unbedingt genug Zeit einräumen muss. Denn das könnte spannend werden.

Zuletzt besuchte Ballett/Tanz-Produktionen:

Explosiv! (Foniadakis/Ekman) – Ballett Basel 16.06.2023

The Cellist (Cathy Marston) – Ballett Zürich 18.05.2023

Coppélia (Edward Clug) – Theater Basel 23.04.2023

Gauthier Dance Company: The Seven Sins – Theater Winterthur 14.04.2023

ANNE TERESA DE KEERSMAEKER: 5AGON – MUSÉE D‘ART MODERNE DE PARIS 31.03.2023

PIT (Bobbi Jene Smith/Or Schreiber) – BALLET DE L‘OPÉRA NATIONAL DE PARIS 29.03.2023

On the Move (van Manen/Stiens/Spuck) – Ballett Zürich 29.01.2023

Giselle – Theater Basel 15.01.2023

Il lago dei cigni (Schwanensee) – LAC Lugano 10.12.2022

Nachtträume/Marcos Morau – Ballett Zürich 09.10.2022