Was für ein grosses Glück, habe ich es noch zur letzten Vorstellung von „Lili Elbe“ am Theater St. Gallen geschafft. Diese spartenübergreifende Uraufführung ist ein Auftragswerk von Konzert und Theater St. Gallen, eröffnete das renovierte und erweiterte Grosse Haus und ist definitiv ein Highlight und „Must See“ dieser Saison…
Zudem ist der Besuch dieses architektonisch interessanten Gebäudes des Architekten Claude Paillard immer wieder ein Ereignis. Der Grundriss beruht auf einem Raster aus Sechsecken, der sich bis in den hintersten Winkel erstreckt, man sieht von jedem Platz ziemlich gut, der Charme der späten 60er Jahre mit seinem Brutalismus-Beton-Chic und dem vielen dunklen Holz ist bis in die letzten Ecken des geräumigen und verwickelten Foyers und im Auditorium spürbar. Zur Oper: „Lili Elbe“ erzählt die Geschichte des in einem männlichen Körper geborenen Dänen Einar Mogens Andreas Wegener, der mit der Malerin Gerda Wegener verheiratet war und in den 1930ern eine der ersten Geschlechtsangleichungen vornehmen liess. 2000 erschien der Roman „The Danish Girl“ von David Ebershofer, der 2015 von Tom Hooper mit Eddie Redmayne als Lili Elbe verfilmt wurde und diese Geschichte erstmals einem breiten Publikum erzählte. Sowohl Film, als auch die Oper (Libretto: ARYEH LEV STOLLMAN) geben Einblick in das Leben einer Frau, die mit einem männlich gelesenen Körper geboren wurde. Lili Elbe hatte ihr Coming-Out und ihre Transition zu einer Zeit, in der geschlechtsangleichende Eingriffe noch völliges Neuland waren und es praktisch keinerlei Vorbilder gab. Der Erfolg dieser Uraufführung des St. Galler Hauses liegt sicherlich darin, dass man vollkommen eintaucht in dieses Leben, in die Gefühlswelten aller Beteiligten, in diese doch sehr eigene Ästhetik der Umsetzung. Gut 100 Minuten nimmt man fasziniert an dieser bewegenden Geschichte teil, bevor das sichtlich bewegte Publikum im ausverkauften Haus den grossen Cast bejubelt. Zu Recht, denn die Umsetzung von Regisseur KRYSTIAN LADA und Choreograph FRANK FANNAR PEDERSEN ist spannend und mit grosser Sogwirkung, lebt aber vor allem durch die grossartige Besetzung: Lili Elbe ist mit der Baritonistin LUCIA LUCAS optimal besetzt, da Lucas mit ihrem persönlichen Hintergrund über die Erfahrung einer Transperson verfügt und auch dramaturgisch im Autorenteam an der Entstehung mitwirkte.

Gemeinsam mit SYLVIA D’ERAMA als Gerda Wegener erleben wir als Zuschauer die emotionalen Ups and Downs, diese Höhen und Tiefen auf dem Weg Lili Elbes, aber auch eine unglaubliche Liebe und tiefstes Verständnis, das beide Personen ein Leben lang begleitet. Die Annullierung der Ehe und Anerkennung Wegeners als Frau durch den König war möglich, eine Heirat von zwei Frauen zu jener Zeit jedoch noch nicht. In den grossen Ensemble-Szenen, Solos, Duetten erleben wir die unterschiedlichsten Gefühlslagen und Stimmungen, intensiv und mitreissend. Lucas kehrt tatsächlich ihre innersten Gefühle nach aussen, lässt uns teilhaben, das macht die Qualität dieser Produktion aus. Während im ersten Teil noch das Leben und die Liebe im Vordergrund stehen, konzentriert sich im zweiten Teil alles um die geschlechtsangleichenden Operationen durch Professor Warnekros, der sich hauptsächlich um sein Ego, seine berufliche Reputation kümmert, als um das Wohlergehen seiner Patientin und potentiellen Gebärmutter-Spenderinnen. Das Setting ist steriler, klinischer, die Handlung lässt nicht mehr so viel Raum für Liebesbeziehungen, ist insgesamt dichter und stringenter als vor der Pause. Man nimmt teil am Leben, an den Wünschen, an den Träumen von Lili Elbe, aber auch am Umfeld, das unterschiedlich auf die Transition reagiert. Mit den Tänzer:innen wird eine Meta-Ebene erzeugt, die sich auf das Gefühlsleben der Protagonisten konzentriert, das funktioniert gut, wirkt erstaunlicherweise nie aufdringlich oder deplatziert, verstärkt die emotionale Komponente der Handlung. Grossartig besetzt und sehr überzeugend auch alle weiteren Rollen: MACK WOLZ (Anna Larsen Bjørner/Mother Wegener/Young Women), JENNIFER PANARA (Hélène Allatini), BRIAN MICHAEL MOORE (Claude LeJeune), SAM TASKINEN (Marius Wegener), KRISTJÁN JÓANNESSON (Christian X/Art Critic/Major Fernando/Porta), DAVID MAZE (Eric Allatini) und MSIMELELO MBALI (Professor Warnekros). Herausragend der Countertenor THÉO IMART als Danish Countess/Dagmar/Matron, seine Stimme ist durchdringend, prägnant, bleibt in Erinnerung, muss man unbedingt weiterhin verfolgen. Bühnenbild und Video sind ebenfalls von Krystian Lada, unterschiedliche Vorhänge und Folien schaffen immer wieder neue Räumlichkeiten und Begrenzungen, die stilisierten Kostüme von BENTE ROLANDSDOTTER verorten die Handlung zeitlich und sind vor allem bei den Tänzer:innen phantasievoll und kreativ. Neben dem SINFONIEORCHESTER ST. GALLEN wirkt das METANOIA QUARTETT als Bühnenmusik an gesellschaftlichen Anlässen. Am Pult steht Chefdirigent MODESTAS PITRENAS, der diese hörenswerte und eingängige Partitur zum Leuchten zu bringt. Passend zur Zeit der Handlung erklingt ein Wohlfühl-Teppich an jazzigen Sounds, Walzerklängen, Foxtrott – es klingt nie banal, wirkt nie aufdringlich, ist aber bei weitem mehr als eine Untermalung, Komponist TOBIAS PICKER schafft es, feinste Nuancen herauszuarbeiten und jegliche Emotionen des bewegten Lebens Lili Elbes zu verstärken, aufzuzeigen, musikalisch umzusetzen, das ist feinfühlig, eingängig, niemals platt. Ein sehr bewegender Moment, wenn am Schluss Lili Elbe ins Licht schreitet und ihre letzten gesungenen Worte „I am a Women“ verklingen, man ist bewegt, betroffen, begeistert von dieser neuen Oper und es bleibt die grosse Hoffnung, dass „Lili Elbe“ an vielen weiteren Bühnen zu sehen sein wird, denn es ist ein wichtiges Stück mit grossartiger Musik.
Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:
Götterdämmerung – Oper Zürich 09.11.2023
La Regenta – Matadero Madrid 25.10.2023
La Rondine – Oper Zürich 01.10.2023
Turandot – Oper Zürich Premiere 18.06.2023
Lessons in Love and Violence – Oper Zürich 11.06.2023
Intolleranza 1960 – Theater Basel 30.05.2023
Serse – Theater Winterthur 11.05.2023
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Nixon in China – Opéra National de Paris 01.04.2023
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