Das Luzerner Theater eröffnet die Saison mit einer Neudichtung der „Orestie“ von Raoul Schrott nach Euripides. Der hierfür geschaffene Bühnenraum, die Inszenierung und die Besetzung für diese fünf Stunden dauernde Produktion ist grossartig und lohnt die Anreise…
Das kleine altehrwürdige Luzerner Haus erlebt eine sehr spezielle Installation, die für die drei Eröffnungsproduktionen „Elektra“, „Orestes“ und „Dido und Aeneas“ als Spielfläche dient: DAS HAUS. Hierfür hat Ausstatter VALENTIN KÖHLER eine alte Scheune, vielmehr eine alte Innerschweizer Mosterei, aus dem Umland abgebaut und im Theaterinnenraum aufbauen lassen. Der komplette Bühnenraum, der Orchestergraben und die ersten Parkettreihen sind überbaut, das Fachwerk-Gebälk reicht bis in den zweiten Rang, ist komplett ausgestattet mit Wohn- und Schlafräumen und sämtliche Aktionen sind durch zusätzliche Live-Kamera und Videoscreens bis in den letzten Winkel verfolgbar. Wem das nicht reicht, der kann nach der Pause auf einen anderen Sitzplatz, in einen anderen Perspektivenwinkel wechseln. In diesem Haus der Atriden beschäftigt sich Regisseurin KATJA LANGENBACH mit der Frage, ob und wie man sich dem Zwang der auferlegten Rache entziehen und warum man sich nur schwer den vorgegebenen Ritualen aufgrund Familie und Herkunft entziehen kann. Es ist eine gelungene und sehr dichte Produktion, die Zeit vergeht im Flug und bis man sich versieht, sitzt man wieder im Zug nach Hause. Schrotts Fassung von 2021 ist erstmals auf einer Bühne zu sehen, er hat die beiden Stücke „Elektra“ und „Orestes“ zu einem grossen Familiendrama eingedampft, im Fokus stehen die beiden Geschwister (mit angedeutet inzestuöser Beziehung), die den Mord an ihrem Vater Agamemnon durch die Mutter Klytaimnestra und Aigisthos rächen. Die altbekannte (und immer wieder grossartige) Geschichte wird stringent erzählt, wie Furien berserkern die beiden durch den Abend. Der antike Chor besteht aus 2 Personen, in der von mir besuchten Vorstellung aufgrund Erkrankung nur noch aus TINI PRÜFERT, die den zweiten Part ebenfalls übernimmt und somit dankenswerterweise die Vorstellung rettet – es ist der letzte Abend, an denen beiden Teile zusammen gespielt werden, aber der Marathon (der aufgrund von 2 Pausen sich dann gar nicht so lange anfühlt!) lohnt sich, denn nur so steigt man wirklich ein in dieses dichte kammerspielartige Drama. Während Schrotts Fassung zu Beginn noch sehr antikisiert, fast ein wenig künstlich und unorganisch klingt, steigert es sich im zweiten Teil temporeich, klamaukartig und überspitzt, fast meint man in einem anderen Stück zu sitzen, verstärkt durch die grellen Close-ups Elektras und Orestes am Screen hat man das Gefühl sich in einem Marvel-Game zu befinden, Angst und Mordlust dominieren, die beiden haben (gemeinsam mit Pylades) nichts mehr zu verlieren, sobald das Volk von Argos den Tod der beiden beschlossen hat. Der gemeinsam ausgedachte Rettungs-Plan wird durchgezogen.



Die Installation des HAUSES hat den Vorteil, dass man – je nach Sitzplatz – sehr nah am Geschehen ist und den Rest am Screen verfolgen kann, das ist die grosse Qualität dieser Produktion und so kann man sehr intime und in sich gekehrte Momente Elektras erleben, ihre Wandlung vom in Sackleinen gehüllten Nichts zur grossen Rächerin verfolgen. CARINA THURNER (Elektra) und CHRISTIAN BAUMBACH (Orestes) sind ein grossartiges, glaubwürdiges und energiegeladenes Geschwisterpaar, verstärkt und unterstützt durch HUGO TIEDJE als Pylades. Die Klythaimnestra von ANJA SIGNITZER ist alles andere als kaltblütig, fast bringt man Verständnis auf für ihre Taten, wenn sie erklärt, warum sie Agamnon töten musste. Das ist eine der vielen interessanten Irritationen des Abends. Auch weitere Personen sind interessant geschrieben und von der Regie entsprechend angelegt: RÜDIGER HAUFFE als Bauer/Tyndareos/Sklave, MARTIN CARNEVALI als Menelaos und ANJA SIGNITZER noch in den weiteren Rollen Helena/Hermione. ANNAKA MINSCH schafft dazu interessante Blickwinkel an der Live-Kamera. Zuletzt ist man etwas irritiert, denn nachdem sich das Drama über einen langen Zeitraum zuspitzt und hinzieht, wird endlich der seit Beginn des zweiten Stückes laufende kleine Monitor mitten im Geschehen bespielt – Helena als abgesandte Apoll’s verkündet darin die Auflösung, bevor sie sich in ein barockes Teppich-Fresko zwischen den anderen Gottheiten einreiht und das Stück beendet. Das kommt sehr abrupt und man sitzt da, der Vorhang zu und alle Fragen offen? Nein, das nicht, aber nach wildem Rachetaumel, endlosen Anklagen gegen die Mutter und dem schändlichem gemeinsamen Mord an Klythemnaistra in der freistehenden Badewanne, zuletzt der aufgebauschten Angst vor dem Tod samt hysterischem Stückendspurt, ist dann dieser „Deus ex machina“-Effekt doch ein klein wenig enttäuschend – Ende gut, alles gut? Das war es also? Die Kraft des Abends verpufft damit und hinterlässt einen etwas schalen Geschmack, insgesamt gesehen aber natürlich eine sehenswerte Produktion, die man in Zürich am Schauspielhaus seit Jahren leider vermisst.
Zuletzt besuchte Schauspielproduktionen:
Mein Kampf – Theater Winterthur 25.05.2023
EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz – Theater Neumarkt Zürich 01.02.2023
Die Physiker – Theater Basel 17.12.2021
King Lear – Schauspielhaus Zürich 15.12.2021
Monkey Off my Back or The Cat’s Meow – Schauspielhaus/Schiffbau 12.12.2021
Orpheus – Schauspielhaus Zürich/Schiffbau 22.09.2021
Lieder ohne Worte – Theaterhaus Gessnerallee 20.06.2021
Das Weinen (Das Wähnen) – Schauspielhaus Zürich 18.10.2020
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