Nino Haratischwili – Das achte Leben (für Brilka).

Was für ein Roman! Epische 1250 Seiten lang und 100 Jahre der Geschichte Georgiens umspannend! Es ist wohltuend, dass in den heutigen schnell erzählenden Zeiten sich eine Autorin die Zeit nimmt und ein derartiges Epos verfasst, eine Familiensaga über fünf Generationen hinweg, einen Mammutroman über starke, unglückliche, kämpfende, verlierende und immer wieder aufstehende Frauen im Schatten des  ausschliesslich  – so scheint es – nur von Männern geprägten Kommunismus…

(Fast) ohne Kitsch erzählt die Autorin Nino Haratischwili diese epochale Geschichte von Liebe und Hass, vielerlei Arten von Kunst, Verrat, politischen Kämpfen und Wirrnissen in der turbulenten Geschichte Georgiens anhand einer grossen Familiensaga, ganz in der Tradition grosser Erzähler wie Thomas Mann oder Leo Tolstoi, in deren Mittelpunkt die beiden starken Frauen Christine und Stasia stehen sowie der dem Sowjetapparat verhaftete Patriarch Kostja Jaschi (samt tragischem Gegenpart in Form seiner Schwester Kitty).

Georgien, 1900: Mit der Geburt Stasias, Tochter eines angesehenen Schokoladenfabrikanten, beginnt dieses berauschende Opus über sechs Generationen. Stasia wächst in der wohlhabenden Oberschicht auf und heiratet jung den Weißgardisten Simon Jaschi, der am Vorabend der Oktoberrevolution nach Petrograd versetzt wird, weit weg von seiner Frau. Als Stalin an die Macht kommt, sucht Stasia mit ihren beiden Kindern Kitty und Kostja in Tbilissi Schutz bei ihrer Schwester Christine, die bekannt ist für ihre atemberaubende Schönheit. Doch als der Geheimdienstler Lawrenti Beria auf sie aufmerksam wird, hat das fatale Folgen.
Deutschland, 2006: Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der UdSSR herrscht in Georgien Bürgerkrieg. Niza, Stasias hochintelligente Urenkelin, hat mit ihrer Familie gebrochen und ist nach Berlin ausgewandert. Als ihre zwölfjährige Nichte Brilka nach einer Reise in den Westen nicht mehr nach Tbilissi zurückkehren möchte, spürt Niza sie auf. Ihr wird sie die ganze Geschichte erzählen: von Stasia, die still den Zeiten trotzt, von Christine, die für ihre Schönheit einen hohen Preis zahlt, von Kitty, der alles genommen wird und die doch in London eine Stimme findet, von Kostja, der den Verlockungen der Macht verfällt und die Geschicke seiner Familie lenkt, von Kostjas rebellischer Tochter Elene und deren Töchtern Daria und Niza und von der Heißen Schokolade nach der Geheimrezeptur des Schokoladenfabrikanten, die für sechs Generationen Rettung und Unglück zugleich bereithält.

(Frankfurter Verlagsanstalt)

In dieser 5 Generationen umspannenden Familiengeschichte nehmen teilweise die Schicksalsschläge und stellenweise der Pathos etwas überhand, dennoch hat man nie das Gefühl von Fiktion, vielmehr erscheint die Geschichte so real und plastisch, dass es fast schon autobiographisch anmutet. Dazu bei trägt natürlich die Tatsache, dass vor allem in der jüngeren Geschichte viele Erlebnisse noch im eigenen Gedächtnis omnipräsent sind (Gorbatschow, Fall der Berliner Mauer etc.) und diesem Epos eine absolut reale Dimension geben. Neben der – oftmals sehr tragischen – Familiengeschichte gibt dieser Roman einen sehr interessanten geschichtlichen Überblick, sowohl über die russischen, als auch die georgischen dramatischen Wendepunkte in der jüngeren Geschichte vom Stalinismus über die harten Jahre des kalten Krieges bis hin zu Gorbatschows Glasnost-Politik und der Öffnung zum Westen. Dass diese beiden Länder stark miteinander verwoben sind, wird alleine schon durch die Person Josef Stalins manifestiert, der zwar namentlich nie auftaucht, aber immer als „Generalissimus“ über der Geschichte schwebt und ja tatsächlich auch aus Georgien stammte. Schön auch, dass es noch eine zusätzliche (etwas magisch angehauchte) Erzähldimension hat, die quasi auch den roten Faden der Geschichte bildet – das Geheimnis um das Familienrezept heisser Schokolade, welches in den Händen der Frauen liegt.

Dieser Roman ist ein wahrer Pageturner, man bleibt der Geschichte verhaftet, von der ersten bis zur letzten Seite, die Story ist glaubhaft und die Figuren bilden eine grosse Bandbreite an Personalities von schillernd exzentrisch bis trocken hochpolitisch – selbst wenn man dieses Epos für ein paar Tage verlässt, steigt man doch schnell wieder ein in die Geschehnisse und erlebt die übliche Traurigkeit, wenn man sich den letzten Seiten nähert. Auf der Umschlaginnenseite befindet sich der komplette Familienstammbaum, das ist manchmal sehr hilfreich, einzelne Unterkapitel sind mit zahlreichen Zitaten von Autoren, Plakaten oder anderen Zeitdokumenten versehen – ein sehr schönes zusätzliches Detail. Letztendlich macht dieser Roman grosse Lust, sich mit den anderen Werken von Nino Haratischwili zu beschäftigen.

Nino Haratischwili (*1983) stammt aus Georgien und lebt als Regisseurin und Autorin in Hamburg, mit ihrem Debütroman „Juja“ (2010) stand sie auf der Longlist des Buchpreises des deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien ihr Roman „Die Katze und der General“.

„Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratschwili, Frankfurter Verlagsanstalt, 2014.

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