Was für ein grosses Glück habe ich, eine der Vorstellungen der Neuproduktion von „El Niño“ von John Adams an der MET zu sehen. Es ist ein aussergewöhnliches Werk in einer wirklich ungewöhnlichen und wunderschönen Umsetzung von LILEANA BLAIN-CRUZ, die als Regisseurin an der MET debütiert. Am Pult steht MARIN ALSOP, die ebenfalls am Haus debütiert. Was für eine tolle Produktion!
Inhaltlich ist „El Niño“ eine einfach zu beschreibende Geschichte und doch ist es gleichzeitig auch sehr komplex. Das Stück (UA 2000 am Théatre du Châtelet, Paris) ist ein zweigeteiltes Werk, in dem Adams versucht zu verstehen, was ein Wunder bedeutet. Es ist ein Opern-Oratorium, dass die Tradition geistlicher Werke wie Bach und Händel in unsere Zeit transportiert. „El Niño“ besteht aus 24 Abschnitten, von denen einige die Parallelen zwischen den biblischen Berichten der Geburt Jesu und heutigen Ereignissen wie Flucht und Vertreibung betonen. Ganz banal gesagt, erzählt das Stück die Reise von Maria und Joseph, verwendet dabei neben Texten der King James Bibel auch Poesie südamerikanischer, überwiegend weiblicher, Autor:innen, zitiert Hildegard von Bingen und Martin Luther. Es geht um das Wunder der Empfängnis und der Geburt, immer im historischen Kontext und aktuellem Zeitbezug.. Blain-Cruz schafft es, all diese universellen Themen auf wunderbare Art und Weise mit bezaubernden und immer wieder überraschenden Bildern zu transportieren, eine gelungen bunte Melange, die etwas an Frida Kahlo, Gauguin, naive Kunst erinnert (Set Design: ADAM RIGG, Kostüme: MONTANA LEVI BLANCO), das Licht von YI ZHAO und die Projektionen von HANNAH WASILESKI sind bunt, leuchtend, kunstvoll. Die Entscheidung Tänzer:innen und Puppenspieler einzusetzen ist famos und erschafft eine zusätzliche Dimension. Klar, das Visuelle dieser Produktion ist sehr dominant, jedoch nie vordergründig oder nur plakativ und schafft eine stimmige Verbindung zu den wunderbaren Klängen von John Adams, dessen ganz eigene musikalische, eher minimalistische Sprache mir bereits sehr gut in der Pariser Produktion von „Nixon in China“ 2023 und in vielen Konzerten des Tonhalle Orchesters Zürich gefallen hat. John Adams war dort in der Saison 2021/22 programmatisch sehr präsent, hat auch selbst ein Konzert dirigiert. Die Musik dieses Werks ist farbenreich und absolut vielschichtig, die Instrumentierung bietet wunderbare Klangfarben, egal ob vom Schlagwerk, den Samplern, Gitarren oder Keyboards, die Orchesterbesetzung ist riesig. Alsop erschafft mit dem Orchester der MET einen fulminanten, differenzierten Klangkörper, der auch in der Dynamik fein ausgelotet und absolut sängerfreundlich klingt. Was für ein Genuss! Der Chor hat viel zu tun, klingt satt und hervorragend einstudiert. Die vielen Choräle fungieren wie ein eigenes Gestaltungsmittel, als wären sie abgestimmt auf die unglaubliche farbige Visualisierung, dieser Klangteppich nimmt gefangen und betört, das ist es, was ich an der Musik von John Adams so sehr mag. Die komplette Besetzung ist grossartig: JULIA BULLOCK (Sopran), J‘NAI BRIDGES (Mezzosopran), DAVÓNE TINES (Bariton), dazu drei grossartige Countertenöre: KEY‘MON W. MURRAH, SIMAN CHUNG, ERIC JURENAS. Ich bin kein grosser Fan von Kindern respektive Kinderchören auf der Bühne, aber wenn sich zuletzt der Vorhang langsam senkt und die immer besinnlicher, ruhiger, leiser werdenden gesungenen Phrasen der an der Rampe stehenden Kinder dieses Werk beenden, dann ist das schon ein sehr grosser und emotionaler Moment. Wann hat man die Möglichkeit ein derart spezielles Werk auf der Bühne zu leben? Was für eine wunderbare Vorstellung! Das Publikum ist hingerissen. Wir sind es auch!
Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:
507: Saint François d‘Assise – Grand Théâtre de Genève 14.04.2024
506: La Bohème – Luzerner Theater 03.04.2024
505: Die Csárdásfürstin – Oper Zürich 01.04.2024
504: Amerika – Oper Zürich 09.03.2024
503: Ernani – Theater St. Gallen 03.03.2024
502: Die lustige Witwe – Oper Zürich Premiere 11.02.2024
501: Cosi fan tutte – Oper Zürich 28.01.2024
500: Orphée aux Enfer – Opéra de Lausanne 31.12.2023
Platée – Oper Zürich 26.12.2023
Lili Elbe – Theater St. Gallen 04.12.2023
Götterdämmerung – Oper Zürich 09.11.2023
Freut mich, dass Du nach der letzten Enttäuschung hier eine sehr erfreuliche Aufführung erleben konntest. Danke für die Schilderung.
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Ja, das war fulminant und hat mich dann doch entschädigt! 🙂
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