Coco – Premiere 20.04.2018 Bern

Ein Musical über die berühmteste Transfrau der Schweiz in den 90er Jahren: COCO – braucht es das? JA. Und zwar unbedingt. Und das nicht nur aufgrund der gesellschaftspolitischen Relevanz. Auch künstlerisch ist es dem Kreativteam gelungen  einen Abend zu kreieren, der lange nachhallt und das Thema feinfühlig angeht…

Das dies möglich ist, liegt in erster Linie an dem grossartigen Buch von ALEXANDER SEIBT, der die Figur Coco aufspaltet in die Person Coco (Mariananda Schempp) und den Körper Coco (Gabriel Schneider) – überdeutlich wird hier die Situation ersichtlich, in der sich Transmenschen befinden. Es war längst überfällig, dieses Thema auf die Bühne zu bringen und zur Enttabuisierung beizutragen. Chapeau für den Berner Schauspielchef, dieses Stück mit seinem Team zu realisieren, die Vidmarhallen sind hierfür sicherlich auch der geeignetere Ort als das grosse Haus (andererseits wäre es im Stadttheater aber auch ein Zeichen gewesen, dass das Thema nun wirklich in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist, aber naja….).

Das Team STEFAN HUBER (Regie) und MARKUS SCHÖNHOLZER (Songs & Lyrics) hat schon mehrfach bewiesen, wie gut sie Hand in Hand arbeiten können und wie kreativ ihr gemeinsamer Output sein kann (ihre gemeinsame Arbeit „Gotthelf“ ist für mich – nach wie vor – die bisher beste und künstlerisch spannendste Produktion der Thuner Seespiele). Das multifunktionale Bühnenbild (Jose Luna) und die Kostüme (Heike Seidler) spiegeln den Zeitgeist der ausgehenden 80er und der 90er Jahre, die Musik von Markus Schönholzer versetzt einen in die damalige Zeit und nimmt Rhythmen und elektronische Klänge dieser Zeit auf, für mich waren das ungewöhnliche Musiken und Arrangements aus Schönholzers Feder – aber äusserst spannend und interessant, eben weil auch keine typischen Musical-Wohlfühlklänge, sondern häufig dissonant und sperrig und somit wohl auch das Leben von Coco beschreibend. Trotz der geschlechtsangleichenden Operation war Coco wohl Zeit ihres Lebens ein unglücklicher Mensch auf der Suche nach sich selbst, dies wird überdeutlich an diesem Abend, der fortwährende Kampf zwischen dem Körper und der Person findet seinen Frieden erst im Tod – ein letztes gehauchtes Wort: „Freiheit“. Das geht unter die Haut. Das wirklich ausserordentlich gute Buch von Alexander Seibt zeigt neben diesem gespaltenen Leben auch die oftmals sehr schwierigen Situationen der Eltern und des engeren Umfeldes – ein wichtiges Stück, aufklärend und um Verständnis werbend. Im Vordergrund steht letztendlich nicht die Biografie von Coco, sondern die Situation von Transmenschen bzw. die Definition eines jeden von uns, wer man ist, was/wer man sein möchte. Mich als Zuschauer hat der Abend sehr bewegt und berührt, das liegt auch an der feinfühligen Arbeit und dem Umgang mit diesem Thema des Regisseurs Stefan Huber und der grossartigen Besetzung. Äusserst glücklich ist der Entscheid, das Ensemble (bis auf den Gast CHRISTOPH MARTI) aus dem Berner Schauspielensemble zu besetzen und nicht auf Musicaldarsteller zurückzugreifen, ich bin der festen Überzeugung, dass nur so diese Zerbrochenheit erlebbar war, es ging eben nicht (nur) um schönes Singen, der Fokus lag in der Darstellung und das ist gelungen, gerade weil es musikalisch nicht immer perfekt war, aber so war auch offensichtlich die Welt von Coco – alles andere als perfekt. Toll als Eltern: GRAZIA PERGOLETTI (Mutter) und JONATHAN LOOSLI (Vater), als langjähriger Lieberhaber/Lebensgefährte Cocos LUCA DIMIC (Rick) – ein absoluter Sympathieträger. MARIANANDA SCHEMPP überzeugt voller lebenspraller Spielfreude, meistens in den gemeinsamen und oftmals stummen Dialogen zwischen sich und dem androgynen und häufig irgendwie rätselhaften Körper GABRIEL SCHNEIDER – in dieser Kombination eine Idealbesetzung. CHRISTOPH MARTI in der Doppelrolle Gillette/Chirurgin ist ganz in seinem (kabarettistischen „Pfister“-)Element, in der Rolle der Ärztin klärt er nicht nur über die Chancen und Risiken einer geschlechtsangleichenden OP auf, im herrlich swingenden Song „Sixty Gender“ informiert er auch das begeisterte Publikum über die Geschlechtervielfalt in unserer Welt, damit ist Marti in diesem Stück ein Fremdkörper und wichtiges Stilelement zugleich und immer zur Stelle das Ruder herumzureißen, bevor es zu dramatisch-sentimental zu werden droht. Man kann ihn und seine Interpretation mögen oder auch nicht, Publikumsliebling ist und bleibt er zweifelsohne. HANS-UELI SCHLÄPFER und seine Band spielen beschwingt und lustvoll die interessante Musik von Markus Schönholzer – da bleibt man dran und hat grosse Lust zuzuhören und dies gerade trotz der teilweise sperrigen Klänge (Achtung: teilweise Ohrwurmqualität!). „Coco“ ist nicht einfach nur ein Transgender-Musical, vielmehr stellt es die allgemeine Frage nach Identität: Wer bin ich?

Ein toller Abend. Ein wichtiges Stück. Herzlichen Glückwunsch dem Kreativteam und an das KonzertTheaterBern! Unbedingt anschauen!

KonzertTheaterBern

 

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