Wilhelm Tell – Theater St. Gallen 26.05.2024

Befreit von jeglicher Schweiztümelei, Kitsch und Lokalkolorit zeigt das Theater St. Gallen Gioachino Rossinis letzte Oper „Wilhelm Tell“. Zu erleben sind dreieinhalb Stunden grosse Tableaux, wunderbare Chor-Momente und ein hervorragendes Sänger:innen-Ensemble. Die Anfahrt nach St. Gallen lohnt sich einmal mehr…

Ich muss zugeben, ich bin mittlerweile ein Fan des St. Galler Theaters und in den letzten Monaten zu einigen Vorstellungen in dieser ersten Saison der neuen Intendanz gefahren. Es hat sich immer absolut gelohnt – sei es die grossartige UA „Lili Elbe„, „Ernani„, „Fordlandia„, „Rent“ oder nun diese gelungene Rossini-Produktion (…und ich bin kein Rossini-Fan!). Eigentlich sollte diese letzte Opernpremiere der Saison im St. Galler Paillard-Bau von Guy Montavon inszeniert werden, doch aufgrund seines Machtmissbrauch-Skandals als Generalintendant des Theaters Erfurt zog er sich zurück und man konnte eine Koproduktion der Irish National Opera und der NOF (Nouvelle Opéra Fribourg/Neue Oper Freiburg) übernehmen. Was für ein Glück, denn diese Produktion lohnt den Besuch. Diese einzige vollständig neukomponierte Grand opéra von Rossini schildert den Kampf der Schweizer Eidgenossen gegen die Habsburger Gewaltherrschaft – Grundthema ist die Freiheit und Selbstbestimmung eines Volkes. Basierend auf Friedrich Schillers berühmtem Drama verknüpft das Werk dabei das tragische Schicksal des Einzelnen mit revolutionären politischen Visionen. Und natürlich kennt jeder die wohl berühmte Ouvertüre. Regisseur JULIEN CHAVAZ und seine Ausstatter (Bühne: JAMIE VARTAN/Kostüm: SEVERINE BESSON) verzichten auf saftig-grüne Rütli-Wiesen und verlegen die komplette Handlung in einen beigen neutralen Raum, die Bergkette – wer das so sehen will – wird durch Neonröhren angedeutet, die Kostüme des Volkes verschmelzen darin, bilden ein Einheit. Einzig die Habsburger mit ihren Vogelmasken, die ein wenig an venezianische Pestmasken erinnern, sind rot gewandet, die Mannen Geslers in ausgestopften Body-Suits wirken tumb und behäbig, haben nicht die angedeutete beige Folklore des Schweizer Volks. Das ist stimmig, auch weil man sofort beim grossen Getümmel erkennt, wer zu wem gehört, wer die Guten sind und wer die Bösen. Denn das ist es, ein Kampf zwischen Gut und Böse und natürlich siegt das Gute – es siegt das Schweizer Volk, es siegt der libertäre Gedanke, die Freiheit. Und auch wenn es einige witzige Momente gibt, so bleibt doch das grosse Gänsehaut-Feeling zum Schluss, wenn alle Hand in Hand vereint an der Rampe stehen und von der Freiheit singen. Die Besetzung der besuchten Vorstellung ist grossartig, allen voran THEODORE PLATT als Guillaume Tell und JONAH HOSKINS als Arnold Melcthal (was für ein schöner kräftiger und höhensicherer Tenor! Grossartig seine Arie „Asile héréditaire … Amis, amis“ im 4. Akt). Bravi für ATHANASIA ZÖHRER als Mathilde, SARAH ALEXANDRA HUDAREW als Hedwige und den wunderschönen Sopran von KALI HARDWICK als Tells Sohn Jemmy (was für eine Wohltat in dieser Testosteron-geschwängerten männerlastigen Besetzung), KRISTJÁN JÓHANNESSON als Gesler, RICCARDO BOTTA als Ruodi, MARTIN SUMMER als Walter Furst/Melcthal, ANDRZEJ HUTNIK als Jäger und der wunderbare CHRISTOPHER SOKOLOWSKI als Rodolphe. Eine gute Entscheidung ist es, die Ballettmusiken nicht zu streichen, sondern tatsächlich zu choreographieren (Choreographie: NICOLE MOREL, Tänzerinnen: LAURA GARCIA AGUILERA, JEANNE GUMY, FEDERICA FAINI, ELENITA QUEIROZ). Das ist witzig, unterhaltsam und funktioniert bestens, das Publikum liebt vor allem die Herdentiere, ich auch! Wenn mir etwas vielleicht nicht so gut gefallen hat, dann das Over-Acting von Kali Hardwick als Jemmy, das hat mich doch etwas genervt (ok, ich weiss – damit auch noch jemand in der letzten Reihe checkt – ich bin ein zappeliges Kind!). Und natürlich dominieren in diesem Werk die grossen Chöre, das Kollektiv, das Schweizer Volk, absolut präzise und hervorragend einstudiert von FILIP PALUCHOWSKI. Und einmal mehr frage ich mich, warum das beim Zürcher Opernchor nicht möglich ist? Das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung von MICHAEL BALKE klingt wunderbar, differenziert, spritzig und absolut sängerfreundlich. Nach dem grossen Finale sofort wohlverdiente Standing Ovations für diese tolle Produktion, die sich vor keinem „grossen“ internationalem Haus verstecken muss. Und wenn ich mir das mittlerweile erschienene Programm der nächsten Saison in St. Gallen anschaue, so kann ich nur sagen – grosse Vorfreude!

Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:

508: El Niño – Metropolitan Opera New York 08.05.2024

507Saint François d‘Assise – Grand Théâtre de Genève 14.04.2024

506: La Bohème – Luzerner Theater 03.04.2024

505: Die Csárdásfürstin – Oper Zürich 01.04.2024

504: Amerika – Oper Zürich 09.03.2024

503: Ernani – Theater St. Gallen 03.03.2024

502: Die lustige Witwe – Oper Zürich Premiere 11.02.2024

501: Cosi fan tutte – Oper Zürich 28.01.2024

500: Orphée aux Enfer – Opéra de Lausanne 31.12.2023

16 Kommentare

  1. arnoldnuremberg

    „… Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder, Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder, Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu, Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai. …“

    Hirte, im 1. Aufzug, 1. Auftritt, Schiller, Wilhelm Tell

    Hallo Arcimboldi,

    vielen Dank für Deine St. Galler Opern-Schilderung.

    Irgendwoher in der Kindheit hatte ich eine Faszination für die Apfelschuss-Szene. Schillers Schauspiel las ich später. Zudem mochte ich Max Frischs entmythologisierenden Beitrag „Wilhelm Tell für die Schule“. Die Rossini-Oper kenne ich nicht. Deine begeisterte Besprechung regt an, gelegentlich nachzuhören.

    Auch wenn ich kein Opern-Freak bin und Deine Beiträge selten kommentiere, finde ich immer wieder die Titel-Fotos zum Schluss-Applaus reizvoll. Verwendest Du „offizielle“ Aufnahmen der Bühnenhäuser oder machst Du eigene Aufnahmen?

    Schöne Grüße aus Nüri nach Züri von Bernd

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    1. arcimboldis_world

      Lieber Bernd! Ja Tell ist hier in der Schweiz natürlich DER Nationalmythos. Ich fand zuletzt den „Tell“ Roman von Joachim Schmidt super, er hat mit diesem ganzen Kitsch etwas aufgeräumt. Gut so. Die Fotos von meinen Blogposts sind immer Fotos von mir von der Applausordnung am Schluss, ich verwende niemals Szenenfotos der Theater, es ist ja ein persönlicher Eindruck von mir und dazu gehört für mich eben auch der Applaus so wie ich ihn sehe und dann mit dem Handy aufnehme….. – viele liebe Grüsse nach Nürnberg, in die grosse Dürer-Stadt…. Adrian

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