Eine absolut unbekannte Oper des hierzulande nicht bekannten österreichisch-ungarischen Komponisten Jenö Hubay und endlich eine Vorstellung im 2016 fertig renovierten Stadttheater – zwei gute Gründe nach Bern zu fahren, um mir „Anna Karenina“ nach dem sehr bekannten Roman von Leo Tolstoi anzusehen. Vorab: Das Haus ist toll renoviert und ein Schmuckstück geworden – die Oper allerdings kein grosser Wurf und zu Recht in der Versenkung verschwunden. Dort hätte man sie auch lassen sollen…
Jenö Hubay schrieb diese Oper als Auftragswerk, welches jedoch – aufgrund des ersten Weltkrieges und politischer Wirrungen des jungen Staates Ungarn – erst 1923 zur erfolgreichen Uraufführung in Budapest kam. Im Anschluss an einigen deutschen Häusern und der Wiener Staatsoper gespielt, verschwand es für lange Zeit und wurde erst 2014 in Braunschweig (Regie: Philipp Kochheim) wieder aufgeführt. Selten, dass eine sogenannte „Ausgrabung“ sich auch lohnt und weiterhin an anderen Häusern gespielt wird. Bei „Anna Karenina“ dürfte dies kaum der Fall sein. Die Musik von Jenö Hubay ist eher traditionell und eingängig, jedoch nichts Eigenständiges – vielmehr eine seltsame Melange aus bombastischen Wagnerklängen (grosse Orchesterbesetzung!), veristischem Puccini und operettenhaften Einschüben (wie z.B. einer Mazurka im 1. Bild). Das Libretto ist sehr geschwätzig, es wird viel erzählt und gesprochen, ohne die Handlung inhaltlich voranzubringen oder das Gefühlsleben der Protagonisten zu unterstreichen. Es hätte hilfreich sein können, das Stück in der Originalsprache aufzuführen, dann wäre die sehr schwache, plappernde und etwas holprige deutsche Übersetzung von Hans Liebstoeckl nicht so vordergründig schlecht gewesen – eine Entscheidung, die ich nicht verstehe. Die Oper hat keine bemerkenswerten grossen Arien oder wirklich spannende Nummern bei denen man zuhört oder aufmerkt, stattdessen plätschert diese eigentlich tolle Geschichte leider irgendwie so dahin und berührt nicht einen Moment. Die eher konventionelle Regie von Adriana Altaras hilft da auch nicht gerade. Ihr Konzept, die Liebe von Anna und Wronsky mittels der vier russischen Jahreszeiten zu bebildern, ist plakativ und macht den Abend nicht spannender (Bühnenbild: Christoph Schubiger/Kostüme: Nina Lepilina). Erheiternd fand ich die Tatsache, dass die Moskauer Society sich im 1. Akt komplett (mit Hausschuhen ganz witzig angedeutet) Schlittschuh-laufend über das Parkett des Eispavillons bewegt und teilweise strauchelt und stürzt, einzig Anna Karenina stöckelt in High-Heels über die Bühne – wie macht sie das nur? Der Fokus dieser Opernbearbeitung von Tolstois Roman liegt auf Anna und Wronsky, alle weiteren Figuren (so auch ihr Mann Graf Karenin: Young Kwon) sind zu Nebendarstellern degradiert, der für diese Geschichte wichtige gesellschaftliche Hintergrund ist nebensächlich und nur angedeutet. Das hilft der Geschichte nicht. Andererseits bekommt dann aber die absolute Nebenfigur Serjoscha (der Sohn von Anna und Karenin) einige Noten zu singen, was ein eher peinlicher Moment ist (Fabio Guillelmon/Singschule Köniz). Für meinen Geschmack waren die beiden Hauptdarsteller Magdalena Anna Hofmann (Anna Karenina) und Zurab Zurabishvili (Graf Wronksy) zu alt besetzt und auch musikalisch nicht überzeugend. Magdalena Hofmann ist eine eher blasse Erscheinung mit teilweise wackeligem Sopran, ihr Partner macht vor allem durch seine in der Höhe extrem gepressten Töne auf sich aufmerksam, leise und sanfte Töne sind bei ihm nicht möglich, kultivierter Gesang klingt anders. Natürlich bleibt das Schlussbild haften, wenn Anna sich vor den Zug wirft und die Lichter der Lokomotive sich mit viel Bühnenrauch dem Zuschauer einbrennen. Für einen grossen Erfolg dieser „Wiederentdeckung“ reicht das jedoch nicht.
„Anna Karenina“ von Jenö Hubay (1858-1937)