Tonio Schachinger – Echtzeitalter.

Zum Jahresbeginn lese ich den Roman „Echtzeitalter“ des österreichischen Autors Tonio Schachinger (Jahrgang 1992) – ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2023 als „Roman des Jahres“ – hat das Werk diese Auszeichnung verdient…? JA: Volle Punktzahl!

Bis auf wenige Ausnahmen stehe ich Preisträgern von Buchpreisen eher skeptisch gegenüber, zu oft schon hat mich die Lektüre enttäuscht und ist für mich kein Qualitätskriterium, egal ob Nobelpreis, deutscher/schweizer Buchpreis und so weiter, einzige Ausnahme sind die Gewinner:innen des französischen Prix Goncourt (warum auch immer?). Nun gewinnt also Tonio Schachinger mit einem Coming-of-Age-Roman (nach „Nicht wie ihr“ sein zweiter Roman) den Deutschen Buchpreis 2023. Gleich vorneweg – ich war etwas skeptisch, fand jedoch das Thema sehr interessant, habe versucht mich positiv ins Lesegetümmel zu stürzen und wurde dafür belohnt. Dieser Roman lohnt sich!

Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon wüsste, ist er mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück? (Rowohlt Verlag)

„Echtzeitalter“ vermittelt das Lebensgefühl der Schulzeit, des Erwachsenwerdens, der Pubertät mit all seinen Ängsten, Sorgen, Stimmungsschwankungen, ersten Lieben, Enttäuschungen, grossen Gefühlen und Lächerlichkeiten und gibt einen interessanten Einblick in ein elitäres Wiener Internat. Einer meiner Lieblingssätze: „Till trifft Felix zu Mittag bei der UNO-City, küsst sie eine Sekunde lang, geht drei Schritte mit ihr, küsst sie noch eine Sekunde, und schon ist es Abend geworden“. Das finde ich wunderbar. Und ja, so ist das. So war das. Man wird fast melancholisch, weil man beginnt, selbst an diese Zeit zu denken. An diese aufregenden Entdeckungen, auch wenn das heute wohl komplett anders abläuft als bei mir in den crazy Achtzigern. Zudem sind es sympathische, interessante Protagonisten und man erfährt viel über die Gaming-Community und Age of Empires, mir absolut fern, aber nun irgendwie entdeckenswert. Der Roman packt mich von Anbeginn, er ist witzig, greift österreichische Zeitgeschichte von Strache und Kurz bis Corona-Pandemie auf, macht sich über das Bildungsbürgertum und die seit Urzeiten wohl gleichgebliebene Schullektüre lustig und zeigt auch, wie braun-verkrustet die österreichische Society (immer noch) ist. Man liest und weiss, es ist ein Roman, aber es ist auch ein Tatsachenbericht. Und wie schön ist dieser krasse Gegensatz des verstaubten Lehrers mit seinen Reclamheftchen zur digitalen Gaming-Welt. Es ist ein junger Roman, an dem jede Generation seine Freude hat, haben muss, denn er ist authentisch und wohl ein Spiegel unserer Zeit. Wohlverdient, dieser deutsche Buchpreis für Tonio Schachinger!

„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger, 2023, Rowohlt Verlag, ISBN: 978-3-498-00317-3 (Werbung)

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