Lion Christ – Sauhund.

Der Debütroman „Sauhund“ von Lion Christ lässt das schwule Leben in der bayerischen Hauptstadt München in den 80er Jahren auferstehen, mit all seinem Rausch an Parties und schwulem Nachtleben, aber auch den Tragödien des ersten Jahrzehnts der AIDS-Epidemie…

Gleich vorneweg, der Roman ist gut recherchiert, denn – anders als der junge Autor – habe ich diese Zeit tatsächlich miterlebt und war auch häufig in München unterwegs, hatte während der Lektüre tatsächlich einige Trigger-Momente und aufblitzende Erinnerungen. Ja, das Gefühl zu jener Zeit hat Christ sehr gut und glaubwürdig in seinem Debüt-Roman beschrieben. Und doch wirkt er irgendwie leblos und oberflächlich…

München, 1983. Flori kommt vom Land und sucht das pralle Leben, Glanz und Gloria, einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Er ist ein unverbesserlicher Glückssucher und Taugenichts, ein Sauhund und Optimist. Im München von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury, von erstickendem Biedersinn und wildem Hedonismus, ist jeder eigene Schritt eine kleine Befreiung. Flori rennt vor seinen Eltern davon, vor seiner ersten großen Liebe, vor jedem mit Erwartungen an ihn. Er wirft sich in die Clubs und Klappen, die heimlich zweckentfremdeten Ehebetten und Berührungen in aller Öffentlichkeit. (Hanser Verlag)

Die Figuren sind glaubwürdig, authentisch, das hat auch damit zu tun, dass er sie im Dialekt sprechen lässt und somit auch ein Hauch Lokalkolorit dazu beiträgt, diese Zeit, diese Stimmung zu rekonstruieren. Erinnerungen werden wach an diese Zeit, an die Repression der Strauß-Regierung und den rigorosen Peter Gauweiler mit seiner Hetze, seinen Razzien und Saunaschliessungen – gleichzeitig das schillernde Münchner Nachtleben mit Freddie Mercury und Barbara Valentin. Und wenn man – so wie ich auch – ursprünglich vom Land kommt, aus der tiefsten Provinz stammt und in jungen Jahren als junger Schwuler vom Land in die nächstgrössere Stadt „flieht“, dann hatte man derartige Erlebnisse, Begegnungen, Erfahrungen aufzuweisen. Neben Flori, diesem modernen Taugenichts und Träumer, diesem irgendwie windigen Hallodri, den man einfach gern haben muss, gibt es einige Figuren, die man fast zu kennen glaubt, die authentisch sind, wie etwa seine beste Freundin, bei der er zunächst unterkommt, der er gnadenlos ausnutzt oder die alte pflegebedürftige Frau Eichinger, die er als Zivi im Altersheim betreut und deren Pelzmantel er schliesslich erben wird. Auch seine vielen Männerbekanntschaften, anonymen Sex-Abenteuer in Parks und auf Klappen und schliesslich seine tragische Liebesbeziehung mit einem HIV-positiven Mann sind emotional und glaubhaft erzählt. Dennoch bleibt der ganze Roman auf seinen 364 Seiten seltsam oberflächlich und berührt nicht wirklich, anders als Rebecca Makkais sehr bewegender Roman „Die Optimisten„, der ein Bild der Gay-Community und der beginnenden Aids-Epidemie in den 80er Jahren im konservativen Amerika zeichnet. Ist diese Oberflächlichkeit gewollt und Konzept, frage ich mich? Soll dadurch eine Distanz geschaffen werden? Ich verstehe es nicht und so lässt mich die Lektüre leider etwas unbefriedigt zurück, wenngleich ich es sehr genossen habe, in Floris Welt einzutauchen und mit ihm zusammen erwachsen zu werden. Vielleicht auch, weil es mich sehr an meine eigenen Jahre in diesem Jahrzehnt erinnert hat. Unterhaltsame Lektüre und wichtiges LGBTQI-Zeitdokument ist es allemal.

„Sauhund“ von Lion Christ, 2023, Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-27747-2 (Werbung)

Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Hanser Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.

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14 Kommentare

  1. landerfuhren@bluewin.ch

    lieber herr mai danke für die rezesion von lion christ s-sauhund. gleich kam mir der kultroman dr fögi isch e souhung von martin frank in den sinn. gestern wurde im sogar theater zürich eine neuauflage vorgestellt. für mich war der roman 1979 eine offenbarung. leider gibt es immer noch zu wenig schwulenromane. herzliche grüsse leni anderfuhren

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