John Irving – Der letzte Sessellift.

Lange darauf gewartet! Endlich konnte ich ihn zur Hand nehmen! Endlich etwas Zeit für 1080 Seiten! Es ist mein erstes grosses Lese-Vergnügen im Herbst 2023 – der neue Roman meines Alltime-Lieblings-Autors John Irving: „Der letzte Sessellift“…

Im Diogenes Verlag bereits Ende April erschienen, nun also zuoberst auf dem Lesestapel ein neuer grosser, ausladender, man kann fast sagen ausschweifender John Irving! „Der letzte Sessellift“ ist trotz einiger kleiner Schwächen wunderbar und ein wichtiges Plädoyer für die Liebe, denn „…es gibt mehr als nur eine Art zu lieben, Adam…“. Irving handelt hierbei so viele Themen ab, dass man meinen könnte, er hätte seine sämtlichen Romanideen nun zuletzt noch in diesen einen und wohl letzten verpackt.

Aspen, Colorado 1941. Mit 18 tritt Rachel Brewster bei den nationalen Skimeisterschaften an. Eine Medaille gibt es nicht, dafür ist sie schwanger, als sie in ihre Heimat Exeter in New Hampshire zurückkehrt. Fortan arbeitet sie als Skilehrerin und verbringt das halbe Jahr in Vermont, weshalb ihr Sohn Adam bei seiner Großmutter Nana aufwächst. Adams Großvater hat aufgehört zu sprechen, als er die Nachricht von der unehelichen Schwangerschaft seiner jüngsten Tochter Rachel erhält, und rutscht unaufhaltsam in eine Demenz. Rachels Schwestern Abigail und Martha bevölkern ebenfalls Adams Welt und kommentieren wie ein griechischer Chor voller Missbilligung alles, was Rachel und Adam tun. Als Adam 14 ist, verkuppelt er die 1,57 m kleine Rachel mit dem noch kleineren Englischlehrer Mr. Barlow, einem Schneeschuhläufer. Und obwohl Großvater Lew während der Hochzeit eine Beißattacke auf die Knöchel der Gäste unternimmt, obwohl er wenig später nur in Windeln vom Blitz erschlagen wird, obwohl Rachel Mr. Barlow in derselben Nacht mit ihrer Lebensgefährtin Molly betrügt, wird aus Rachel, Adam und Elliot Barlow eine Familie, in deren Schutz jedes Mitglied seinen Neigungen nachgehen kann: Adam wird Drehbuchautor, Rachel frönt dem Skifahren und Molly, Mr. Barlow trägt Frauenkleider. Doch Irving wäre nicht Irving, wenn es nicht auf diesem Höhepunkt steil abwärts gehen würde: Morde geschehen und Selbstmorde, Hass, Neid und Missgunst zerstören den Seelenfrieden der Charaktere, die Gesellschaft stößt diejenigen aus, die nicht konform sein wollen. Zum Glück versöhnt uns Irving mit einem friedvollen Ende für Adam, der uns sein Leben von seiner Geburt bis ins sehr hohe Alter erzählt. (Diogenes Verlag)

Es gibt so viele typische John Irving – Momente, in denen man als Leser lauthals lachen muss und immer wieder herrscht Freude über diesen tollen Humor, diese absurden Situationen und bizarren Figuren. Das kann man nur lieben. Und gleichzeitig macht es mich traurig, weil natürlich klar ist, dass aufgrund Irvings Alter dies wohl – und das hat er auch in mehreren Interviews klar und deutlich kommuniziert – sein letzter grosser Roman sein wird. Dennoch hat man bei einigen Kapiteln das Gefühl, dass sie zu ausschweifend sind, etwa wenn Irving lang und breit über den Vietnamkrieg oder über den Film „Der Kindergartenmann“ schreibt. Genau dann wirkt der Plot etwas ziellos, fast so, als hätte sich der Autor verloren, aber – und das ist immer die Stärke Irvings gewesen – er findet zurück und bringt die Geschichte stringent zu Ende. Es ist sein Alterswerk und offensichtlich autobiographisch geprägt. Themen wie das Boxen, Hotels oder Bären tauchen in seinem Werk immer wieder auf, darauf ist Verlass, das ist die Konstante, das ist sehr schön. Und auf diesen grossen Roman musste man immerhin 7 Jahre warten. „Der letzte Sessellift“ hat alles, was einen guten Irving ausmacht, skurrile Personen, Situationskomik, über die man herzhaft lachen muss, gesellschaftliche Aussenseiter, wunderbare unzählige literarische Anspielungen. Und es ist ein sehr wichtiger Roman, denn er wirbt für mehr Akzeptanz, für mehr Toleranz in einer immer konservativer werdenden Gesellschaft. Ein Muss für jeden Irving-Fan und alle die es (noch) werden wollen.

„Der letzte Sessellift“ von John Irving, 2023, Diogenes Verlag, ISBN: 978-3-257-07222-8  (Werbung)

Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Diogenes Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.

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17 Kommentare

  1. Silbensammlerin

    Wunderbar! Danke für die Rezension. Ich teile die Begeisterung für John Irving und kann mich in seine Werke so richtig reinfallen lassen und darin verlieren -so wie er sich oftmals selbst darin verliert. Und ja, es ist wohl der letzte große Roman.

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    1. arcimboldis_world

      John Irving begleitet mich mein ganzes Leben, der erste Roman, den ich gelesen habe war damals „Garp“, das war wohl auch ein Riesenerfolg und wurde verfilmt, aber ich liebe im Grunde jeden seiner Romane, ich mag diese skurrilen Figuren, die alle so lebensecht und sympathisch sind, ich muss häufig wirklich lauthals lachen. Er ist wirklich mein Lieblingsautor, Richard Russo finde ich auch toll, der hat manchmal auch was von Irving, findest Du nicht? Herzlichst, aus Zürich, A.

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      1. Silbensammlerin

        Meine erster Roman von ihm war „Gottes Werk und Teufels Beitrag“, die Verfilmung finde ich auch sehr gelungen. Ich mag auch die Art, wie er seine Figuren so liebenswert zeichnet. Von Richard Russo habe ich vor Jahren „diese gottverdammten Träume“ gelesen. Stimmt, das erinnert an Irving. Kriege ich glatt Lust, das nochmal zu lesen. Bei uns in Frankfurt sind ja jetzt die Literaten zu Gange.
        Herzliche Grüße aus Frankfurt nach Zürich

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