Annie Ernaux – Une femme.

Es ist schon ein paar Jahre her, seit Annie Ernauxs Text „Une Femme“ 1987 erschien. „Eine Frau“ hat hat nichts von seiner Kraft eingebüsst und ist noch immer grosse und lesenswerte Literatur. Es ist mein zweites Werk der französischen Literatur-Nobelpreis-Trägerin und nach „Les Loyautés“ von Delphine de Vigan und „Monique s’evade“ von Edouard Louis bereits mein dritter Roman, den ich im Original auf französisch lese. Das ist nicht immer einfach für mich, aber eine absolute Bereicherung!

Bereits die ersten Seiten berühren mich sehr mit ihrer klaren und ungeschönt detaillierten Beschreibung des Todes ihrer Mutter und der nachfolgenden Beerdigung. Alles was danach folgt liest sich wie eine feinsinnige Annäherung der Autorin an ihre Mutter, eine posthume Huldigung und auch einer soziologische Erklärung ihres eigenen Werdegangs.

Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 schreibt Annie Ernaux ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war. Das Leben ihrer Mutter: geboren um die Jahrhundertwende in der Normandie, Arbeiterin, dann Ladenbesitzerin, Ehefrau, zweifache Mutter, lebenslustig  und offen, Körper und Geist werden später langsam durch Alzheimer zerstört. Das Ende war für die Tochter vorauszusehen, die Wirklichkeit des Todes scheint indessen kaum erträglich. Zeit ihres Lebens kämpfte die Mutter darum, ihren sozialen Status zu erhalten, ihn vielleicht sogar zu überwinden. Erst der Tochter wird dies gelingen, eine Distanz zwischen den beiden entsteht. Auch darauf blickt Annie Ernaux zurück, voller Zärtlichkeit und Abscheu und Schuldgefühl.(Suhrkamp Verlag)

Was mir auch in diesem Buch Ernauxs sehr gut gefällt, ist die schnörkellose Sprache, diese offene und ehrliche Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, mit ihren Wurzeln und der Erkenntnis, wie sehr sie dies alles geprägt hat. Es ist aber auch eine Versöhnung damit. Und einmal mehr für mich eine sehr interessante Lektüre und Erfahrung, zunächst auf Französisch und im unmittelbaren Anschluss dann noch die deutsche Suhrkamp-Ausgabe in der Übersetzung von Sonja Finck.

„Une femme“ von Annie Ernaux, Collection Folio, 1987 Edition Galimard, ISBN: 978-2-07-038211-8 / „Eine Frau“ von Annie Ernaux, 2019, Suhrkamp Verlag, ISBN: 978-3-518-22512-7 (Werbung)

Zuletzt gelesen:

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11 Kommentare

  1. frau frogg

    Vielleicht ist es dieses Buch von Annie Ernaux, dass ich lesen muss. Ich habe schon zwei gelesen und finde sie dann immer doch nicht so prickelnd, weil sie so um ihre Herkunft herumraunt und dann doch wenig von ihren Eltern erzählt. Ausserdem tue ich mich mitunter schwer mit diesen französischen Autor*innen, die die „niedere“ Herkunft ihrer Eltern so dramatisieren und mithin ihren eigenen sozialen Aufstieg. Was würden sie über all jene Leute sagen, die dem Milieu ihrer Eltern mehr oder weniger verhaftet geblieben sind?

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    1. arcimboldis_world

      Ja, aber dann wird Dir „une femme“ sicherlich auch nicht gefallen, denn die Bücher sind alle so mit diesem soziologischen Impact, genau wie Edouard Louis etc., das muss man tatsächlich mögen, ich mag das sehr.

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