Glücklich ist, wer die Möglichkeit hatte, eine der wenigen Vorstellungen von Alfred Schnittkes „Leben mit einem Idioten“ an der Oper Zürich zu sehen – was für eine spannende Inszenierung von KIRILL SEREBRENNIKOV, was für eine tolle Besetzung unter der musikalischen Leitung von JONATHAN STOCKKHAMMER, selbst der Zürich Opernchor war in absoluter Bestform – klasse Produktion!
In einem Interview sagt Serebrennikov zu seiner Inszenierung „«Ich will mich hier nicht damit beschäftigen, sowjetischen Bullshit zu entschlüsseln. Was mich an dieser Oper interessiert, ist in erster Linie die menschliche Natur und noch mehr die Natur der tiefen, furchterregenden, tierischen Elemente, die in jedem Menschen vorhanden sind“ – und genau das bekommt man auch zu sehen, deutlich, drastisch, packend. Eigentlich als Politsatire 1980 geschrieben, war für den Autor VIKTOR JEROFEJEW klar, wer der Idiot ist – die sowjetische Regierung. In Serebrennikovs Umsetzung ist das nun nicht mehr der Fokus, er will wohl dem russischen Staat und Putin keine weitere Plattform mehr bieten, stattdessen sehen wir absurden Humor im Kosmos einer Beziehung, wir sehen quasi die Szenen einer Ehe, den Zuschauern vorgeführt durch das Auftauchen des Idioten, der mit voller Wucht in diese Partnerschaft platzt. Das absolut interessante Libretto nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, es wird gemordet, geschissen, gewichst und Blut in Form von Tomatensaft spielt auch eine grosse Rolle und immer wieder die Frage, was ist real und was findet nur in der Einbildung statt. Der Chor ist fortwährend auf den Stufen des klinisch weissen Bühnenbildes (die komplette Ausstattung ist ebenfalls von Kirill Serebrennikov) präsent und singt famos (Einstudierung: JANKO KASTELIC, JOHANNES KNECHT, ERNST RAFFELSBERGER). Man mag es kaum glauben, dass das Debüt von BO SKOVHUS am Zürcher Haus so lange warten musste, nun aber endlich kann man auch hier diesen grossen Sänger live erleben. Und gemeinsam mit SUSANNE ELMARK bildet er das zentrale Element der Handlung (Ich & Frau). Skovus singt diese sehr schwierige Partie mit Bravour und ist immer noch ein wunderbarer Darsteller, Elmark schafft es knapp am allzu Schrillen vorbei, ist absolut präzise, ihre Stimme ist sehr markant und mir gefällt ihre fortwährend leichte Hysterie, ich finde ihre Darstellung sehr glaubhaft, ohne zu überspielen. Und MATTHEW NEWLIN als Idiot singt zwar (bis auf sein verstärktes „Lied von der Birke) immer nur sein „Äch“, dies aber mit einer Vehemenz und einem grandiosen Facettenreichtum, zudem ist er gemeinsam mit seinem tänzerisch/performenden Double (fantastisch, ausdrucksstark, omnipräsent: CAMPBELL CASPARY) neben Skovus und Elmark grossartig besetzt. Was für Cast! Köstlich auch BIRGER RADDE als Marcel Proust, ebenso tolle Leistung von MAGNUS PIONTEK als Wärter. Und keinesfalls zu vergessen, dieser sehr berührende Moment gleich zu Beginn mit dem Violine spielenden Ich als Kind bei einer auch visuell betörenden Tango-Sequenz: ALVIN SCHEIWILLER, bravo! JONATHAN STOCKHAMMER am Pult und die PHILHARMONIA ZÜRICH im Graben und teilweise aus den Logen musizieren diese Musik absolut transparent, sängerfreundlich und tragen so diesem Gesamtkunstwerk bei, ingesamt hatte ich das Gefühl, dass alle Beteiligten zu Beginn etwas Zeit brauchten, um sich „einzugrooven“, aber irgendwann kann man sich der Sogwirkung dieser Musik nicht mehr entziehen. Wunderbar! Die Musik Schnittkes ist absolut spannend und hat man erst einmal den Zugang gefunden, bietet sie so viele unglaublich tolle Momente und Zitate, sehr schade, dass im Repertoire den Bühnen und Orchester sein Werk so wenig präsent ist. Umso mehr freue ich mich nun auf das Konzert von Schnittkes Konzert für Viola in der Tonhalle (Petr Popelka – musikalische Leitung/Antoine Tamestit – Viola).
Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:
517: Ariadne auf Naxos – Oper Zürich 10.10.2024
516: Simon Boccanegra – Oper Zürich 27.09.2024
515: Der Doppelgänger – Luzerner Theater 12.09.2024
514: Tannhäuser – Bayreuther Festspiele 27.08.2024
513: Tristan und Isolde – Bayreuther Festspiele 26.08.2024
512: Siegfried – Bühnen Bern 18.06.2024
511: I vespri siciliani – Oper Zürich 13.06.2024
510: L’Orfeo – Oper Zürich 06.06.2024
509: Wilhelm Tell – Theater St. Gallen 25.05.2024
508: El Niño – Metropolitan Opera New York 08.05.2024
507: Saint François d‘Assise – Grand Théâtre de Genève 14.04.2024
Grar
LikeLike