Es ist eine Premiere im doppelten Sinn: Die erste grosse Produktion der neuen Tanzkompanie St. Gallen im grossen Haus – auf der grossen Bühne – und gleichzeitig die erste abendfüllende Arbeit des neuen Künstlerischen Leiters Tanz FRANK FANNAR PEDERSEN gemeinsam mit JAVIER RODRÍGUEZ COBOS. Und um es gleich vorweg zu nehmen – „Fordlandia“ ist grossartig geworden…
Der Titel dieser Produktion basiert auf dem nach Henry Ford benannten gleichnamigen Ort Fordlandia südlich von Santarém in Amazonien und es ist auch nicht die erste choreographische Arbeit zu diesem Thema, aber es bietet sich natürlich an, diesen zu wählen, wenn man sich mit dem Thema Utopie beschäftigt und es dazu auch bereits grossartige Musik des isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson gibt. Nach den ersten beiden ausverkauften Vorstellungsserien von „Inger/Shechter“ und Strømgrens „Matthäus 22:37-39“ in der Lokremise war die Erwartung an dieses Projekt sehr gross. Und so ist diese (An)Spannung am Premierenabend im Saal förmlich zu spüren.
Eine leere Bühne ist immer ein idealer Ausgangspunkt um Neues zu erschaffen, um genau diesen Raum zu füllen, um eine Utopie zu kreieren. „Utopien scheitern stets an Restriktionen. Träume kennen keine Beschränkungen, die Realität jedoch sehr wohl. Das Theater ist für mich einer der wenigen Orte, wo versucht wird, diese Einschränkungen aufzuheben“ sagt Pedersen im Programmheft-Interview und so entstand diese Produktion im Rahmen eines gemeinsamen Prozesses, zusammen mit seinem Team und den Tänzer:innen. Und so tragen alle dazu bei, diesen leeren Raum mit Ideen zu füllen, das sieht man, das spürt man, da staunt man. Es gibt viel zu sehen, die berückend schönen Bilder brennen sich ein. In meiner ganz persönlichen Interpretation sehe ich das, was ich als „A Dancers Life“ bezeichnen würde. Im Mittelpunkt der Spiegel – während der Ausbildung, während der kompletten Karriere, unzählige Stunden davor, darin, als Abbild. Man sieht, wie man sich entwickelt, wie sich die Technik verbessert, zuletzt sieht man wohl auch den körperlichen Verfall, das nahende Ende der Tanzkarriere. Ich sehe die harten Jahre der Ausbildung, wenn gemeinsam in hellblauen Overall-Uniformen (grossartige Kostüme von DÉSIRÉE MÜLLER und FLORENTINO MORI) die Gemeinschaft entsteht, immer ein Ziel vor Augen, eine Produktion, ein neues Engagement, harte Arbeit, hartes Training und dann doch die oftmals enttäuschende Austauschbarkeit der einzelnen Tänzer:innen, die häufig unpersönlichen Auditions, das alles entscheidende Vortanzen – das Tänzerleben mit all seinen Ups and Downs, eine Vielzahl an (Spiegel)Scherben und Verletzungen. Grossartig die Sequenz mit den interviewten Eltern von Ísabella, das ist die Realität. Die (neue) Gesellschaft, das Ensemble hat sich formiert und gefunden und fährt vor der Pause tanzend in den Orchestergraben, um nach der Pause von hier unten neu zu erstehen, die tanzende Masse hat sich aufgelöst nach dem Prozess des Schindens und Drills, des Wachsens und Formens. Wie Phönix aus der Asche entsteht die neue Gesellschaft, kommen alle zurück, der Tanzboden glänzt und spiegelt, das Ensemble besteht nun aus vielen Individuen in großartigen Kostümen – sehr „Fashion“ – welche die Charaktere der einzelnen Tänzer:innen betonen, unterstreichen, verstärken. So viele grossartige Kostümdetails, man weiss nicht, wo man hinschauen soll. Und dann das Ende der Tanzkarriere, ein Neubeginn, die Wiederauferstehung aus Trümmern, zuvor der Verfall des Körpers, wenn – was für ein schönes Bild – die vielen Vorhänge aus Seilen brechen, vom Schnürboden fallen. Ein neues Leben, nachdem man so viele Jahre mit Spiegeln konfrontiert war, wird man selbst zum Spiegel, zur Projektionsfläche. Und strahlt, reflektiert, zu Beginn noch etwas wackelig und unsicher, bis man aufrecht und selbstbewusst in sein neues Leben schreitet.

Zuletzt ist wohl jeder im Saal auf seine ganze eigene Art und Weise von dieser Produktion, von diesem – ich nenne es Taumel – berührt. Man sieht, was man sehen möchte. „Fordlandia“ lässt für mich alles offen und erzählt dennoch eine gemeinsame Story, man spürt die tiefe Verbundenheit des Ensembles. Man spürt erneut diese grossartige Energie und Kraft, diese unbändige Lust zu tanzen. Man ist hingerissen von den grossartigen Musiken von von JÓHANN JÓHANNSSON, ERIK SATIE, MURCOF & VANESSA WAGNER (ARVO PÄRT) und DANIEL MUÑOZ PANTIGA/ARTOMÁTICA. Das Team schafft es, die leere Bühne immer zu füllen, diesen grossen Raum zum Leuchten zu bringen und dennoch in so vielen Momenten ein Gefühl von Intimität entstehen zu lassen. Der erste Teil ist packend und stringent, der zweite Teil könnte – für meinen Geschmack – etwas straffer sein, langweilig wird es jedoch nie. Ich kann mich dem grossen „Wow“ dieser Produktion nicht entziehen. Ich gebe mich der kollektiven Begeisterung hin. Standing Ovations! Wundervoll!
Zuletzt besuchte Ballett/Tanz-Produktionen:
Messa da Requiem/Ballett Zürich – Oper Zürich 28.03.2024
Matthäus 22:37-39 (Jo Strømgren/Tanzkompanie St. Gallen) – Lokremise St. Gallen 23.02.2024
Timekeepers: Tankard/November/Nijinskaja – Ballett Zürich 02.02.2024
Walkways: W. McGregor/C. Marston/J. Robbins – Ballett Zürich 01.01.2024
Alonzo King Lines Ballet: Deep River – Theater Winterthur 22.12.2023
Introdans: Fall/Pure/Kaash – Theater Winterthur 23.11.2023
La Veronal: Sonoma – Theater Winterthur 11.11.2023
Florentina Holzinger: TANZ – Theaterhaus Gessnerallee 10.11.2023
Nachtträume – Ballett Zürich Wiederaufnahme 04.11.2023
Das hätte ich auch gerne gesehen! Toller Beitrag!
LikeGefällt 1 Person
Hello Hello – ja, eine wirklich tolle Produktion, wenn Du die Möglichkeit hast, unbedingt nach St. Gallen fahren, die neue Tanzkompagnie ist wirklich wunderbar, so tolle Energie! Ich bin begeistert! Herzlichst, A.
LikeGefällt 1 Person