Die Grande Dame der irischen Literatur Edna O’Brien hat 2015 im 85. Lebensjahr ihren grossartigen und beeindruckenden Roman „The little red chairs“ veröffentlicht. Langsam und subtil beginnt die Geschichte, nach und nach wird dem Leser klar, was sich dahinter verbirgt…Die männliche Hauptfigur des Dr. Vladimir „Vuk“ Dragan („Vuk“ = Wolf) ist in O’Briens Roman quasi identisch mit Radovan Karadžić, die Handlung spielt nach dessen Untertauchen und wurde nach Irland verlegt. Karadžić wurde mit einem internationalen Haftbefehl gesucht, 2008 in Belgrad verhaftet und vom Haager Tribunal am 24. März 2016 schuldig gesprochen und zu insgesamt 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Als Präsident von Bosnien und Herzegowina hatte er Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befohlen, schuldig gesprochen wurde er wegen des Massakers von Srebrenica, bei dem 1995 mehr als 8000 Männer und Jungen zwischen 13 und 78 getötet wurden, es wurde unter der Führung von Ratko Mladić von der Armee, der Polizei und serbischen Paramilitärs verübt, trotz der Anwesenheit von Blauhelmsoldaten.
Die weibliche Hauptfigur Fidelma MacBride nutzt – nach zwei totgeborenen Kindern von ihrem Mann – die Anwesenheit von Vlad und wird von diesem schwanger – just zu diesem Zeitpunkt wird klar, wer sich hinter dem niedergelassenen Frauenschwarm und Alternativmediziner verbirgt. Für Fidelma bricht eine Welt zusammen, von ihrem Leben nach dieser Enthüllung berichtet dieser Roman…
In einer kalten, dunklen Nacht taucht in Cloonoila an der irischen Westküste ein Fremder auf und bringt Unruhe ins eingeschlafene Dorfleben. »Ein bisschen Romantik« erhoffen sich die einen, »Skandal« wittern die anderen. Denn Dr. Vladimir Dragan, kurz Vuk: »Wolf«, aus Montenegro will sich als Heiler und Sexualtherapeut bei ihnen niederlassen.
Priesterliche Bedenken gegen seine Behandlungen zerstreut der Doktor im Nu, einen misstrauischen Polizisten wickelt er um den Finger. Der ganze Ort erliegt nach und nach dem Charisma des mysteriösen Fremden, der martialische Gedichte schreibt, lateinische Verse rezitiert und vor allem bei den Frauen scheinbar Wunder bewirkt. Die schöne, mit einem viel älteren Mann verheiratete Fidelma hat ihn sogar als Vater des Kindes auserwählt, nach dem sie sich so verzweifelt sehnt. Doch Vuk ist wirklich ein Wolf unter Schafen, ein gesuchter Kriegsverbrecher, und Fidelma wird für ihren Pakt mit ihm bitter bezahlen. Ihr Leben nimmt eine dramatische Wendung.
(Steidl Verlag)
Der Roman verbindet Zeitgeschichte mit dem persönlichen Erleben der Protagonistin und den Themen Verführung, Schuld, Lüge und den Konsequenzen. Beeindruckend ist, wie sich ein Mann wie Dr. Vlad komplett in seine eigene zurechtgeschneiderte Lügenwelt zurückzieht und sämtliche Ereignisse leugnet, das berührt den Leser und man erkennt – so ist das Leben. Zurück bleiben traumatisierte Menschen. Fidelma versucht auf unterschiedlichste Weise ihre eigenen schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten, aber selbst eine Konfrontation mit „Vuk“ in Den Haag bringt sie nicht weiter. Die letzten Kapitel des Romans handeln von der Verarbeitung der Ereignisse in Fidelmas Leben. Nichts wird je so sein wie früher, das ist die bittere Erkenntnis. Ein interessant konstruierter Roman mit wechselnden Erzählperspektiven, sehr zu empfehlen.
Der Titel des Romans bezieht sich auf 11541 Stühle, die auf der Hauptstrasse Sarajevos am 6. April 2012 aufgestellt wurden – im Gedenken an die zwischen 1992 und 1996 getöteten Bewohner. Die Autorin hat den Prozess gegen Radovan Karadžić vor Ort am internationalen Gerichtshof in Den Haag verfolgt.
„Die kleinen roten Stühle“ von Edna O’Brien, Steidl-Verlag, 2017
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