Andreas Maier – Das Haus/Die Strasse (Ortsumgehung 2 & 3).

Nach dem ersten Roman „Das Zimmer“ der auf 11 Bände angelegten „Ortsumgehung“ von Andreas Maier kann ich nicht anders, als gleich die beiden folgenden Bände zu besorgen, um erneut in dieses Universum in der Wetterau einzutauchen…

Es ist diese spiessige Kleinbürgerlichkeit der 70er Jahre, die man selbst aus seiner Kindheit und Jugend so gut kennt und die es einem leicht macht, sich sofort zurecht zu finden in diesen familiären Konstellationen, Konflikten und Seilschaften irgendwo in der hessischen Pampa. Und so lese ich „Das Haus“ in einem Atemzug und begebe mich dann direkt in „Die Strasse“.

Das Haus: Am Beginn dieses Lebens ist Herbst, und Enten schwimmen auf dem Bad Nauheimer Teich. Der Erzähler erinnert sich an ein Paradies, ein Leben ganz ohne Menschen und Zwänge. Die ersten Jahre verlebt er hauptsächlich bei der Urgroßmutter. Aber dann kommt der Umzug in das große, neue Haus der Familie, das dort gebaut worden ist, wo früher die Apfelbäume standen. Das neue Haus ist jetzt das Lebenszentrum des Kindes, dem es sich verweigert. (Suhrkamp Verlag)

Es ist eine interessante Mischung von unbeschwerter Kindheit und Leidensjahren eines offenbar autistischen Kindes, seines Lebens, das Maier nun im zweiten Band der elfbändigen Reihe beschreibt und uns Lesern auf eine fast schon intime Weise schildert. Das ist stellenweise bedauernswert und in seiner Einsamkeit auch traurig, dennoch humorvoll, jedenfalls immer sehr authentisch erzählt. Und es ist eine absolut genaue Analyse der kleinkarierten Provinz, denn in Frankfurt, der wohl nächst grösseren Stadt sähen viele Dinge wohl komplett anders aus.

Die Strasse: Am Anfang sind es bloß Doktorspiele, aber sie sind schon von einer Dringlichkeit, die eines Erwachsenen würdig wäre. Später kommt die Bravo und gibt erstmals eine Sprache dazu. Eine jugendliche Welt aus zeitschriftengeborenen Worten wie Petting, Glied und Scheide. Der Erzähler, drei Jahre jünger als seine Schwester und ihre Freundinnen, steht staunend vor ihnen und erfährt seine erste Aufklärung ausgerechnet mit Alice im Wunderland … (Suhrkamp Verlag)

Es geht ums Eingemachte, es geht um die erwachende Sexualität, um all die vielen Geheimnisse und verbotenen Dinge, über die ältere Mädchen flüstern und man als Junge nur erahnen kann, was gerade abläuft. Genau beobachtet und erinnert, erzählt Maier von all diesen Dingen, diesen Kämpfen mit Eltern und Geschwistern, mit den pubertären Entdeckungen von neuen Wörtern wie Petting, Penis, Scheide und dem Blättern in der von den Erwachsenen so geschmähten „Bravo“ und eigentlich könnten sie doch froh darüber sein, denn das Heft übernimmt ja quasi die oft so peinliche Aufklärungsarbeit, die Eltern sonst übernehmen müssten. Ich weiss nicht, wie das heute läuft, aber ich kann mich und meine Kindheit 1:1 in diesen knapp 200 Seiten des dritten Bandes „Die Strasse“ sofort wieder entdecken und das ist für mich als Leser die grosse Qualität dieses Textes. Der Maier’sche Ortsumgehungs-Kosmos wird immer grösser und erweitert sich. Wunderbar ist das.

What’s next: Ortsumgehung 4: „Der Ort“.

„Das Haus“ von Andreas Maier, 2023 (ursprünglich 2013), Suhrkamp Verlag, ISBN: 978-3-518-46416-8 (Werbung)

„Die Strasse“ von Andreas Maier, 2015, Suhrkamp Verlag, ISBN: 978-3-518-46567-7 (Werbung)

Zuletzt gelesen:

Claire Keegan – Reichlich spät

Delphine de Vigan – Les Enfants sont rois

Anne Enright – Vogelkind

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude

Nell Zink – Sister Europe

Colin Higgins – Harold und Maude

Karl Ove Knausgård – Das dritte Königreich

Tarjei Vesaas – Frühlingsnacht

12 Kommentare

Diesen Beitrag von arcimboldis_world kommentieren