Bereits der ungewöhnliche Titel dieses Bandes mit Erzählungen von Saša Stanišić, der im Mai 2024 erschienen ist, macht Lust sich damit zu beschäftigen. Nach der Lektüre der ersten Geschichte „Neue Heimat“ umso mehr…
Es sind ungewöhnliche Geschichten und manchmal mag man es kaum glauben, dass alle aus der Feder eines Autors stammen (sagt man das heutzutage überhaupt noch?). Es sind Geschichten, die leichtfüssig daherkommen, dies aber bei weitem nicht sind. Sie sind tiefgründig, humorvoll, plätschern vor sich hin und plötzlich liest man den letzten Satz und stellt fest, man hätte gerne noch viele weitere Seiten davon lesen wollen. Und doch kommt das Ende nicht abrupt, sondern genau zur rechten Zeit. Das ist eine grosse Qualität dieser Texte.
Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern diese ganz andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt? Und: wäre es nicht schön, könnte man ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt? Manchmal fürchten wir uns, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, das uns ein besseres Ich beschert hätte, ein größeres Glück und die besser aussehenden und lustigeren Haustiere und Partner. Die neuen Erzählungen von Saša Stanišić widmen sich diesem permanenten Grübeln an den Kreuzwegen unserer Biografie, an denen man doch auch einmal einen überraschenderen Weg hätte gehen, eine unübliche Wahl hätte treffen oder eine Lüge hätte aussprechen können. So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um festzustellen, dass er dort schon einmal war… (Luchterhand Verlag)
Stanišićs Erzählkosmos bewegt sich von Helgoland-Abenteuern zu Reichsbürgern und vom Neuanfang einer Witwe und ihrer Bereitschaft wieder lieben zu wollen, bis hin zum Spielbetrug eines Vaters beim Memory-Spiel mit seinem Sohn. Bereits sein Roman „Herkunft“ von 2019 hat mir ausserordentlich gut gefallen. In diesen neuen Geschichten steckt viel Liebe und Lust zu Fabulieren, viel selbst Erlebtes und insgeheim im Subtext viel verborgene Biographie, seine Liebe zur Literatur und zum Schreiben an sich. Ein schönes Buch, eine ideale Sommerlektüre.
„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne“ von Saša Stanišić, 2024, Luchterhand Verlag, ISBN: 978-3-630-87768-6 (Werbung)
Dieser Blog-Beitrag ist ohne eine vereinbarte Zusammenarbeit mit dem Verlag entstanden. Ich habe ein Rezensionsexemplar kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen, wofür ich mich beim Penguin Verlag sehr herzlich bedanken möchte. Meine Meinung blieb davon in jeglicher Art und Weise unbeeinflusst.
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