Erstmals in der Schweiz zu sehen: ALAN LUCIEN ØYENs Tanzkompanie WINTER GUESTS eröffnet das Tanzfestival STEPS am Kurtheater Baden mit der Produktion „Story, Story, Die“…
Die erste Erkenntnis – was sind das für grossartige Tänzer:innen, Schauspieler:innen, Performer:innen, Allrounder:innen? Sie sprechen, sie wispern und bewegen sich, sie tanzen und agieren nahtlos und ohne Pause, temporeich. Øyen hat dabei ein grosses Gespür für Timing, reizt die Szenen und Momente aus bis an die Grenzen, bis kurz vor dem Moment, an dem man denkt, jetzt reicht es aber, ist es genug. Das ist grossartig und zum ersten mal mag ich etwas, was mich sonst eher abstösst und aufregt, ich höre den verstärkten Atem der Tänzer, wenn sie in Bewegung sind und gleichzeitig Texte sprechen, rezitieren, das hat etwas berauschend atemloses, das turnt mich fast an, hat stellenweise für mich sogar etwas sehr sexuelles. Ich mag das. Und so lasse ich mich durch diese ganzen 90 Minuten treiben, die Zeit vergeht im Flug. Eine Aneinanderreihung an Alltagsszenen, an Begegnungen, es fühlt sich an, wie ein choreographiertes Drehbuch, viele Stakkato-Bewegungen auf den Text choreografiert, wunderbar finde ich das, ich bin hingerissen von den langen und teils komplizierten Bewegungsabfolgen in dieser sehr interessanten Tanzsprache Øyens. Einzelne Szenen von graziler Sanftheit werden durch schnelle abrupte Lichtwechsel unterbrochen, abgelöst von erschreckender Brutalität, von Erschiessungen und Gewehrsalven, die man sieht und hört. Die mich als Zuschauer herausreissen aus meiner etwas eingelullten Stimmung. Die lange Sequenz eines Totentanzes ist bildstark, beeindruckend, brennt sich ein. Flirrender Bewegungsrausch wechselt sich ab mit minimalistischen Sequenzen und wohltuender Stille. Es gibt für mich kein Narrativ und doch hängen alle Sequenzen zusammen und wenn man es nicht komplett versteht, so spürt man die Verbundenheit zu einem grossen Ganzen. Um was geht es eigentlich?
„Der Titel «Story, story, die.» ist eine Anlehnung an ein Ausscheidungsspiel, bei dem die Spieler*innen im Kreis sitzen und gemeinsam eine Geschichte erzählen. Die Spielleitung kann zu jeder Zeit eingreifen und auf eine neue Person zeigen, die den Faden weiterspinnen muss. Wer zu langsam ist oder zögert, «stirbt» bzw. wird aus dem Spiel geworfen. In seiner erfolgreichen interdisziplinären Produktion bringt Alan Lucien Øyen die Dynamik dieses Spiels auf die Bühne. Für den norwegischen Choreografen und Regisseur verbirgt sich dahinter eine grosse Metapher für das heutige Leben: Ständig müssen wir eine passende Geschichte bereithalten oder gar erfinden, um uns möglichst sympathisch zu präsentieren. Und das alles in einem wahnsinnig hohen Tempo, das uns insbesondere die sozialen Medien auferlegen. Der Druck, gemocht zu werden, lastet schwer auf unseren analogen und digitalen Schultern: Täglich gilt es, attraktive Inhalte zu generieren und zu teilen oder eben zu «sterben». (STEPS)
Und ja, genau das macht die Qualität dieser Produktion aus, man erkennt sich in gewissen Momenten wieder, kann sich mit der ein oder anderen Person identifizieren. Natürlich sind es die persönlichen Geschichten der Tänzer:innen, aus denen dieser Abend entstand und doch finden alle Anwesenden sich an diesem Abend auf der Bühne wieder. Man fragt sich, was ist Fiktion und was ist Realität und man findet, erkennt sich wieder in diesem täglichen Kampf ums Überleben und dem permanenten Wunsch geliebt zu werden. All das erleben wir in dieser Produktion, eine Achterbahn der Gefühle und ein grandioses und aussergewöhnlich vielseitiges Ensemble: ALEX CLAIR, IOANNIS YÁYA LOGOTHETHIS, PASCAL MARTY, ADAM MCGAW, EVAN SAGADENCKY, KLUANE THOMPSON, YI-CHI LEE. Diese gut eineinhalb Stunden sind hochemotional, haben eine grosse dramatische Kraft, man erlebt eine illustre Mischung aus Popkultur und ausgestellten Intimitäten. Das berührt sehr. In einer ganz eigenen Tanzsprache. Sehenswert!
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