Nach Prokofiews „Krieg und Frieden“ und Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ bildet nun Mussorgskijs „Chowantschina“ den Abschluss der Reihe russischer Opern in der Regie von CALIXTO BIEITO und unter der musikalischen Leitung von ALEJO PÉREZ am Grand Théâtre de Genève….
Auch wenn ich vorbereitend mehrmals die Handlung dieser fünfaktigen Oper Mussorgskys zur Hand genommen und durchgelesen habe, so sitze ich dennoch in dieser Vorstellung und bin ein wenig überfordert, denn das meiste habe ich bereits wieder vergessen, weil auch irgendwie tröge. Die Musik, die eher aus Sprechgesang und grossen Chören besteht ist wirklich schön, die Besetzung in Genf (wie immer) grossartig. Calixto Bieito bzw. seine Ausstatterin REBECCA RINGST arbeiten mit bildstarken Momenten und teils schönen Ideen in der Umsetzung. Ich bin froh, zu dieser Vorstellung gefahren zu sein und dennoch zieht das Stück an mir vorüber, ich lese die französisch-englische Übertitelung und nur wenig Momente ziehen mich hinein in das Geschehen, das mir aus heutiger Sicht zu abstrakt erscheint und mit Bieitos neugedeuteten Bildwelten einfach zu weit hergeholt ist, klar erkennt man in einer Figur (auch optisch) ein wenig Putin, es ist nicht langweilig und die gut 3.5 h fliessen schnell dahin, aber es packt mich nicht, es erschöpft mich sogar ein wenig und es wundert nicht, findet sich das Stück nicht allzu häufig in den Spielplänen (in Genf war es zuletzt 1981/82 zu sehen). Zu Prokofiews „Guerre et Paix“ hatte ich einen besseren Zugang, als zu dieser „Chowantschina“-Mammutproduktion, deren beeindruckende Bilder und Videos auf den riesigen flexiblen Videowalls (wie immer grossartig von SARAH DERENDINGER) wohl die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sich einbrennen. Dagegen rückt die männerlastige Besetzung fast ein wenig in den Hintergrund und das ist schade, denn der Cast ist hervorragend: DMITRY ULYANOV ist ein etwas tumber Prince Ivan Khovansky mit prächtig-derbem Bass, der ein wenig an den Truppenführer Wagner erinnert, grossartig auch TARAS SHTONDA als ranghoher Vertreter der Altgläubigen Dosifej, omnipräsent und mit seinem überdimensionalen Gebetsteppich über den Schultern durch die Szenerie wandernd. Schick hingegen und eher das Establishment verkörpernd: VLADISLAV SULIMSKY als Boyar Fyodor Shaklovity und DMITRY GOLOVNIN als eher feinsinniger und Europa zugewandtem Prince Vasily Golitsin (mit seinem wunderbaren Tenor). Bestechend mit ihrer Stimme und ihrer Präsenz: RAEHANN BRYCE-DAVIS als Marfa, eine Altgläubige, von Bieito angelegt als die geheimnisvolle Künderin, die quasi den Dreh- und Angelpunkt dieser Produktion bildet, ihre voluminöse Bruststimme erinnert ein wenig an Azucena, ja vielleicht sogar an Kundry, so wie das ganze Stück mich immer wieder an den oft so verklärten Wagner’schen Pathos erinnert. In weiteren Rollen zu sehen: ARNOLD RUTKOWSKI als Prince Andrey Khovansky, EKATERINA BAKANOVA als Emma, MICHAEL J. SCOTT als Scribe, LIENE KINČA als Susanna, RÉMI GARIN als Envoyé de Golitsyne/Streshnev, EMANUEL TOMLJENOVIĆ als Kouzka (dessen eher kleine Rolle von Bieito ziemlich aufgewertet wurde), VLADIMIR KAZAKOV als 1er Strelets, MARK KURMANBAYEV als 2e Strelets und IGOR GNIDII als VARSONOFIEV. Und einmal mehr agiert und singen der GRAND THÉÂTRE DE GENÈVE CHORUS sowie die Kinder des MAÎTRISE DU CONSERVATOIRE POPULAIRE DE GENÈVE (Einstudierung: MARK BIGGINS) einfach wunderbar, das sind auch die grossen Momente in dieser Vorstellung, diese omnipräsente Verkörperung des russischen Volkes in Form des Chorgesangs, das geht unter die Haut und bleibt als Quintessenz von diesem Abend, vor allem wenn dann im letzten Akt zusätzlich die Blech-Bläser mit ihrem Ruf aus dem oberen Rang ertönen. Das sind für mich die wirklich starken Momente in dieser sonst häufig etwas dahinplätschernden Produktion. Calixto Bieito, dessen grosse Skandal-Inszenierungen nun also offensichtlich – und fast ein wenig schade – vorbei sind, erzählt uns diese Geschichte, die zu Beginn der Regierungszeit Zar Peters des Grossen spielt, in gemässigten Bildern, das Land ist aufgeteilt, die Stimmung aufgeheizt von den verschiedenen rivalisierenden Gruppen und Militärs, die Religion ist aufgespalten in die Reformierten und die „Altgläubigen“, man will das „alte“ Russland bewahren, während ein Teil nach Europas Westen strebt. Auf der Drehbühne sehen wir das Europäische Parlament in Straßburg als Gebäude-Miniatur, später mit brennenden Flaggen der europäischen Länder oder man bedient sich im Sarkophag Stalins und verspeist dessen Hirn, es sind viele kleine aufblitzende Schlaglichter, viele collagenartige Momente, es gibt keine stringent erzählte Handlung, zuletzt jedoch – statt dem Feuertod der Altgläubigen – eine gemeinsame Reise aller ins Licht, das hat (erneut) etwas wagnerianisches, ist das der grosse finale Erlösungsmoment oder der Abtransport aller in den Gulag, in das Straflager? Kraftvoll ist es jedenfalls und so endet dieser Abend mit einem sehr starken und einprägsamen Bild, auch wenn man etwas mehr aus diesem Stück hätte machen können zu einer Zeit, in der die politischen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen alles andere als entspannt sind. Insgesamt ist die Vorstellung nicht so gut besucht, während man sonst das Genfer Haus nur ausverkauft kennt – das nach der Pause noch mehr ausgedünnte Publikum ist jedoch ziemlich begeistert. Alejo Pérez hat zusammen mit dem ORCHESTRE DE LA SUISSE ROMANDE uns Zuhörern einen Klangteppich präsentiert, der die Sänger:innen auf wundersame Weise durch diesen doch sehr anspruchsvollen Abend trägt, sämtliche Instrumentengruppen sind transparent und feinsinnig ausgelotet, dennoch bleibt viel von der Wucht dieser stellenweise sehr dramatischen Musik, vor allem in den gemeinsamen Momenten mit dem Chor hören wir ein faszinierend plastisches und farbenreiches Klangemälde und ich bin immer wieder erstaunt über die wunderbare Akustik im oberen Rang (Amphitheatre) des Grand Théâtre…
Zuletzt besuchte Musiktheater-Vorstellungen:
528: Macbeth – Theater St. Gallen 23.03.2025
527: Agrippina – Oper Zürich 11.03.2025
526: Manon Lescaut – Oper Zürich 6.3.2025
525: Rusalka – Staatsoper Stuttgart 27.02.2025
524: Dido and Æneas – Grand Théâtre de Genève 23.02.2025
523: Le songe d’une nuit d’été – Opéra de Lausanne 31.12.2025
522: Un ballo in maschera – Oper Zürich 17.12.2024
521: Fedora – Grand Théâtre de Genève 15.12.2024
520: Der fliegende Holländer – Oper Zürich 10.12.2024
519: Liebe zu den drei Orangen – Theater St. Gallen 08.12.2024
518: Leben mit einem Idioten – Oper Zürich 01.12.2024
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