Timekeepers: Tankard/November/Nijinska/Ballett Zürich – Oper Zürich 02.02.2024

Die von Christian Spuck für das Zürcher Publikum geschaffene Wohlfühl-Zone ist nun definitiv vorbei. CATHY MARSTONs Konzept des neuen Triple-Bill-Abends „Timekeepers“ des BALLETT ZÜRICH fordert seine Zuschauer:innen, bietet Neues und Altes, ist äusserst kontrastreich und schlichtweg wunderbar…

Zu sehen sind drei innerhalb eines Jahrhunderts uraufgeführte Werke, die von ihren Stilstik und Musikauswahl unterschiedlicher nicht sein könnten. Und genau das macht diesen Abend so wahnsinnig interessant und äusserst sehenswert – wie schon der letzte Triple-Bill-Abend „Walkways (McGregor/Marston/Robbins)„: Er gibt einen spannenden Einblick in die immense Bandbreite und kreative Fülle der Sparte Tanz bzw. choreographischer Arbeiten von gleich drei Generationen. Bei „Timekeepers“ steht konzeptionell das Klavier im Mittelpunkt. Der Abend beginnt mit „For Hedy“ (choreographische Uraufführung 20.1.24, Ballett Zürich) der australischen Choreographin, Regisseurin und Autorin MERYL TANKARD. Zur grossartigen Musik von George Antheils „Ballet mécanique“ sehen wir eine dadaistische Welt voller Lärm und brutalen, ja fast schon gewalttätig wirkenden Bewegungen, die Welt ist in Aufruhr, man kommt fast nicht dazu, alles und jede Bewegung aufzunehmen, so vieles passiert in diesem Gewusel, in dieser Hektik, in diesen unglaublich energetischen Bewegungsabläufen in der sehr schönen und äusserst eigenwilligen Ausstattungs-Ästhethik von MAGDA WILLI (Bühnenbild), BREGJE VAN BALEN (Kostüme) und RÉGIS LANSAC (Video). Diesem grandiosen Sound kann man sich nicht entziehen – die mechanisch gesteuerte Musik in einer Fassung für Klavier und 8 Lautsprecher ist einfach zu wuchtig und fast schon an der Grenze zum Erträglichen, virtuos gespielt von GUY LIVINGSTON, einem der führenden Experten für die Musik Antheils. Ruhepol inmitten des Ensembles: SHELBY WILLIAMS als Stummfilmstar Hedy Lamarr (1914-2000). Mit ihren sinnlichen Posen wird sie zum Mittelpunkt, zum ruhigen, lasziven Gegenpol des Ensembles. Was bleibt, ist ihre letzte grosse Pose, ihre letzte Silhouette mit Glatze, bevor die Musik verstummt und fast schon wohltuende Ruhe einkehrt. Was für ein Auftakt!

Nach kurzer Umbaupause dann eine weitere Uraufführung – „Rhapsodies“ des südafrikanischen Tänzers und Choreographen MTHUTHUZELI NOVEMBER, der normalerweise die Musiken für seine Stücke selbst komponiert und arrangiert, sich nun aber mit der bestehenden Musik George Gershwins auseinandersetzen muss, die natürlich jeder kennt und nahezu ein Schlüsselwerk amerikanischer Musik ist, hier zu hören in einer Fassung für 2 Klaviere (ROBERT KOLINSKY & TOMAS DRATVA) und nach Antheils Lärmbombast herrscht nun eine fast schon wohltuende temperierte Atmosphäre und Wärme mit der Musik Gershwins und einer kurzen Sound-Sequenz von November selbst. Dieses Stück muss man einfach lieben mit seiner Sanftheit, der jazzigen Note und dem unverkennbaren Einfluss von Novembers Herkunft. Die Ausstattung von MAGDA WILLI (Bühne) und BREGJE VAN BALEN (Kostüme) sowie das Licht von MARTIN GEBHARDT für dieses Piece sind berückend schön und unterstützen dieses warme, sanfte, wohltuende Gefühl. Die Musik Gershwins kling immer noch und immer wieder so modern, man kann es kaum glauben, dass die Uraufführung 1924, also vor 100 Jahren, stattfand. „Rhapsodies“ ist kraftvoller, zeitgenössischer Tanz, die afrikanischen Wurzeln sind unverkennbar, neben den energetischen Ensembles (wie schön, es wird wieder vermehrt auf Spitze getanzt in Zürich!), beeindruckt vor allem das wunderschöne Pax de deux der beiden Tänzer MLINDI KULASHE und SEAN BATES.

Den beeindruckenden Schlusspunkt des Abends setzt die neoklassizisistische Sperrigkeit von Igor Strawinskys Tanzkantate „Les Noces“ für vier Klaviere (ROBERT KOLINSKY, TOMAS DRATVA, KATERYNA TERESHENKO und LIDIIA VODYK), einem sechsköpfigen Schlagzeugensemble, fünf Gesangssolist:innen FLAVIA STRICKER (Sopran), DOMINIKA STEFANSKA (Alt), CHRISTOPHER WILLOUGHBY (Tenor), AKSEL DAVEYAN (Bass) und YVES BRÜHWILER (BASS, Chorsolo) und dem gemischten Chor der ZÜRCHER SING-AKADEMIE (Einstudierung: FLORIAN HELGATH, musikalische Leitung: SEBASTIAN SCHWAB). Ein Jahrhundert nach der Entstehung erscheint uns dieses Ballett von BRONISLAWA NIJINSKA (der Schwester von Nijinski) heutzutage als eigenartiges Konstrukt ikonischer Posen mit seltsam anmutenden Pyramiden aufgeschichteter Tänzer:innen mit stoisch-ausdruckslosen Gesichtern. „Les Noces“ ist der grosse Schlusspunkt des hervorragend tanzenden Ensembles, während MAX RICHTER (Die Braut) und BRANDON LAWRENCE (Der Bräutigam) wie versteinert den energetisch stampfenden Bewegungen und Ritualen folgen – als Zuschauer verfolgt man fasziniert diese volkstümlichen Abläufe in trachtenartigen Kostümen und geflochtenen Zöpfen einer bäuerlichen Hochzeit.

Man ist fasziniert und irritiert zugleich von diesem Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, das 1923 in Paris seine Uraufführung fand. In Erinnerung bleiben sicherlich die grossartigen folkloristischen Ensembles und das gestellte Schlussbild, wenn langsam die Töne des Schlagwerks verklingen. „Timekeepers“ irritiert das Publikum, verstört es stellenweise sogar, das entnimmt man vielen Wortfetzen, die man links und rechts beim Verlassen des Saales hört. Es ist ein mutiges Konzept von Ballettdirektorin Cathy Marston und es absolut sehenswert. Bravi!

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